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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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bedanken. Kaum stand ich auf dem Boden, waren sie auch schon verschwunden. Ich blickte an der finsteren Hauswand empor, in den zweiten Stock hinauf. Es rührte sich nichts. Es war gegen drei Uhr früh. Der Blick auf das Steyr-Waffenrad meines Vormunds, das die Burschen an die Hausmauer gelehnt hatten, war der traurigste. Kein Zweifel, ich mußte den Gang zu meiner Mutter über meinen Großvater machen, der mit meiner Großmutter in Ettendorf wohnte, in einem alten Bauernhaus, nur hundert Schritte von der berühmten Wallfahrtskirche entfernt, vor welcher alljährlich am Ostermontag der sogenannte Georgiritt stattfindet. Meine Mutter und ich, wir wären nicht in der Lage gewesen, eine Katastrophe zu verhindern. Der Großvater war die Autorität, der sich jeder beugte, der schlichtete, was zu schlichten war, dessen Machtwort das erste und einzige war. Der Richter. Der Urteilssprecher. Ich wußte genau, was der Druck auf die Klingel an unserer Haustür bedeutete. Ich hütete mich davor. Ich verklemmte das deformierte Waffenrad zwischen der Hausmauer und dem Schubkarren, der für alle Fälle und alle möglichen Zwecke Jahr um Jahr an der Hausmauer stand, und machte mich auf in das drei oder vier Kilometer entfernte Ettendorf. Ich liebte die Stille und die Leere der Stadt. Bei den Bäckersleuten war schon Licht, ich rannte davon, aus dem Taubenmarkt, hinunter über die sogenannte Dentistenstiege, an welcher, solange zurückgedacht werden kann, ein Dentist ordinierte, an unserem Krämer vorbei, Schneider, Schuster, Leichenbestatter, alle nur möglichen Berufe hatten hier ihren Standort, am Gaswerk vorbei über die Traun auf einem hölzernen Steg, darüber, hoch oben, mein Wunderwerk der Technik, es spannte sich an die hundert Meter über die Traun von Osten nach Westen, genial, kühn, so höre ich meinen Großvater, diese Konstruktion: die Eisenbahnbrücke! Ich erinnere mich, daß ich in der Langeweile der Nachmittage sehr oft Steine auf die Geleise gelegt habe, ohne Zweifel zu kleine für die gigantischen Lokomotiven, die ich und meine Volksschulkollegen so gern in die Tiefe stürzen gesehen hätten. Sechs-, sieben-, achtjährige Anarchisten übten sich, wenn auch ohne Erfolg, an der sogenannten Weinleite, indem sie stundenlang in der Hitze Steine und Holzprügel herbeischafften und auf die Geleise legten und sich auf die Lauer hockten. Die Züge dachten nicht daran, zu entgleisen und mit ihrem Waggongefolge in die Tiefe zu stürzen. Sie pulverisierten die Steine und schleuderten die Holzprügel in die Luft. Wir hockten zwischen den Büschen und zogen die Köpfe ein. Zur Vollendung unserer anarchistischen Absichten fehlte es uns an Körperkraft, nicht an den geistigen Fähigkeiten. An manchen Tagen waren wir milde gestimmt und legten anstatt Steinbrocken und Holzprügel nur Pfennigmünzen auf die Geleise und erfreuten uns an jeder gelungenen Expreßzugsquetschung. Man mußte die Münzen schon nach einem ganz genau ausgeklügelten System auf die Geleise legen, um eine besonders gelungene Auswalkung zu erreichen, dem Dilettanten sprang die Münze weg, und er fand sie im Geröll und im Gestrüpp der Weinleite nicht wieder. Sehr oft stellte ich mir vor, die Eisenbahnbrücke stürzt zusammen, in vielen meiner Träume habe ich heute noch das Bild der eingestürzten Brücke vor mir, die Elementarkatastrophe meiner Kindheit. Die nur an einem Faden in den reißenden Fluß herunterhängenden Ersterklasseabteile, an welchen lauter Leichen und im Katastrophenwind schreiende Überlebende zappeln. Wie überhaupt von frühester Kindheit an meine Träume immer in aufgerissenen Städten gipfelten, in zusammengestürzten Brücken, abgerissen in die Tiefe hängenden Eisenbahnzügen. Diese Eisenbahnbrücke war das gewaltigste Bauwerk, das ich bis dahin gesehen hatte. Wenn wir nur ein ganz kleines Dynamitpäckchen an einem einzigen der Träger anbringen und zur Explosion bringen, dann stürzt die ganze Brücke unweigerlich ein, sagte mein Großvater. Heute weiß ich, daß er recht hatte, es genügt ein halbes Kilogramm Sprengstoff, um die Brücke zum Einsturz zu bringen. Die Vorstellung, daß ein Päckchen Sprengstoff von der Größe unserer Familienbibel genügt, um die weit über hundert Meter lange Brücke zum Einsturz zu bringen, faszinierte mich wie nichts. Aber man muß eine Fernzündung machen, sagte mein Großvater, damit man nicht mit der Brücke selbst in die Luft fliegt. Anarchisten sind das Salz der Erde, sagte er immer wieder.

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