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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Mich faszinierte auch dieser Satz, er war einer seiner Gewohnheitssätze, deren ganze und das heißt vollkommene Bedeutung ich naturgemäß erst nach und nach begreifen konnte. Die Eisenbahnbrücke über die Traun, zu der ich aufblickte wie zu meiner allergrößten Ungeheuerlichkeit, einer viel größeren Ungeheuerlichkeit naturgemäß als Gott, mit dem ich zeitlebens nichts anzufangen wußte, war mir das Höchste. Und gerade deshalb hatte ich immer darüber spekuliert, wie dieses Höchste zum Einsturz zu bringen sei. Mein Großvater hatte mir alle Möglichkeiten, die Brücke zum Einsturz zu bringen, aufgezeigt. Mit Sprengstoff könne man alles vernichten, wenn man nur wolle. In der Theorie vernichte ich jeden Tag alles, verstehst du, sagte er. In der Theorie sei es möglich, alle Tage und in jedem gewünschten Augenblick alles zu zerstören, zum Einsturz zu bringen, auszulöschen. Diesen Gedanken empfände er als den großartigsten. Ich selbst machte mir diesen Gedanken zu eigen und spiele mein ganzes Leben damit. Ich töte, wann ich will, ich bringe zum Einsturz, wann ich will. Ich vernichte, wann ich will. Aber die Theorie ist nur Theorie, sagte mein Großvater, dann zündete er sich die Pfeife an. Im Schatten der nächtlichen Eisenbahnbrücke, an welcher ich mit der größten Lust meine anarchistischen Gedanken entzündete, war ich auf dem Weg zum Großvater. Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die andern fortwährend zuziehen. Wir sehen, sind wir mit ihnen zusammen, was wirklich ist, nicht nur den Zuschauerraum, wir sehen die Bühne, und wir sehen alles hinter der Bühne. Die Großväter erschaffen seit Jahrtausenden den Teufel, wo ohne sie nur der liebe Gott wäre. Durch sie erfahren wir das ganze vollkommene Schauspiel, nicht nur den armseligen verlogenen Rest als Farce. Die Großväter stecken den Enkelkopf da hin, wo es mindestens etwas Interessantes, wenn auch nicht immer Elementares zu sehen gibt, und erlösen uns durch diese ihre fortwährende Aufmerksamkeit auf das Wesentliche aus der trostlosen Dürftigkeit, in welcher wir ohne Großväter zweifellos bald ersticken müßten. Mein Großvater, mütterlicherseits, errettete mich aus der Stumpfheit und aus dem öden Gestank der Erdtragödie, in welcher schon Milliarden und Abermilliarden erstickt sind. Er zog mich, früh genug, nicht ohne schmerzhaften Züchtigungsprozeß, aus dem Allgemeinsumpf heraus, glücklicherweise den Kopf zuerst, dann das Übrige. Er machte mich, früh genug, aber tatsächlich als einziger, darauf aufmerksam, daß der Mensch einen Kopf hat und was das bedeutet. Daß zur Gehfähigkeit auch die Denkfähigkeit so bald als möglich einzusetzen habe. Zum Großvater nach Ettendorf ging ich, wie immer, auch in dieser Nacht wie auf einen heiligen Berg hinauf. Ich stieg aus den Niederungen empor. Ich ließ alles zurück, was engstirnig, schmutzig, im Grunde nichts als ekelerregend war. Ich ließ den abscheulichen Geruch einer dumpfen Welt hinter mir, in welcher die Hilflosigkeit und die Gemeinheit an der Macht sind. Etwas Feierliches kam in meinen Gang, die Atemzüge weiteten sich, bergauf, zu meinem Großvater, zu meiner höchsten Instanz, wandelte ich mich ganz und gar selbstverständlich vom gemeinen Verbrecher, vom nichtswürdigen und so abgrundtief bösartigen Charakter, von der zwielichtigen, verderbten Figur zur Persönlichkeit, deren hervorstechendste Eigenschaft nichts als ein erhabener Stolz war. Nur ein ganz besonders intelligenter, mit ganz besonderen Geistesgaben ausgestatteter Mensch erlernt in so kurzer Zeit das Radfahren und getraut sich, bis vor Salzburg zu fahren. Daß ich kurz vor dem Ziel scheiterte, schmälert nicht meine Wundertat. So dachte ich sicher. Denn selbst in meinem Scheitern ist noch meine Größe erkennbar. Ich präparierte mich auf dem Weg zu meinem Großvater, je höher ich den Hang hinaufstieg, je mehr ich mich dem großväterlichen Hause näherte, desto eindringlicher machte ich mir meine Leistung klar. Ich war nicht einmal müde. Ich war zu aufgeregt. Wir müssen nur tätig sein, niemals untätig, dieses großväterliche Wort hatte ich immer im Ohr, auch heute noch bestimmt es meinen Tagesablauf. Ich sagte es mir, während ich höher und höher stieg, ununterbrochen vor, gleich, was wir tun, es muß etwas getan werden, sagte der Weise auf dem Ettendorfer Berg. Der Tätige ist der Heilige, selbst wenn er in dieser ohnehin

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