Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Können mein Vergehen oder gar Verbrechen auszulöschen imstande sei, daran zweifelte ich nicht eine Sekunde. Wem, außer mir, gelingt es schon, zum allererstenmal auf das Rad zu steigen und auf und davon zu fahren, und noch dazu mit dem höchsten Anspruch, nach Salzburg! Sie müßten einsehen, daß ich mich doch immer, gegen die größten Hemmnisse und Widerstände, durchsetzte und Sieger sei! Vor allem wünschte ich, während ich die Pedale trat und es schon in die Schluchten unterhalb Surbergs ging, mein wie nichts auf der Welt geliebter Großvater könnte mich auf dem Fahrrad sehen. Da sie nicht da waren und überhaupt nichts von meinem nun schon sehr weit vorangetriebenen Abenteuer wußten, mußte ich zeugenlos mein Werk vollbringen. Sind wir auf der Höhe, wünschen wir den Beobachter als Bewunderer wie sonst nichts herbei, aber dieser Beobachter als Bewunderer fehlte. Ich begnügte mich mit der Selbstbeobachtung und der Selbstbewunderung. Je härter mir die Geschwindigkeit ins Gesicht blies, je mehr ich mich meinem Ziel, der Tante Fanny, näherte, desto radikaler vergrößerte sich die Entfernung aus dem Ort meiner Ungeheuerlichkeit. Wenn ich auf der Geraden für einen Augenblick die Augen zumachte, kostete ich die Glückseligkeit des Triumphators. Insgeheim war ich mir mit meinem Großvater einig: ich hatte an diesem Tag die größte Entdeckung meines bisherigen Lebens gemacht, ich hatte meiner Existenz eine neue Wendung gegeben, möglicherweise die entscheidende der mechanischen Fortbewegung auf Rädern. So also begegnet der Radfahrer der Welt: von oben! Er rast dahin, ohne mit seinen Füßen den Erdboden zu berühren, er ist ein Radfahrer, was beinahe soviel bedeutet wie: ich bin der Beherrscher der Welt. In einem beispiellosen Hochgefühl erreichte ich Teisendorf, das durch seine Brauerei berühmt ist. Gleich danach mußte ich absteigen und das Waffenrad meines eingerückten und dadurch tatsächlich beinahe völlig entrückten Vormunds schieben. Ich lernte die unangenehme Seite des Radfahrens kennen. Der Weg zog sich, ich zählte abwechselnd die Randsteine und die Risse im Asphalt, ich hatte bis jetzt nicht bemerkt, daß der Strumpf an meinem rechten Bein von der Kette ölverschmiert war und in Fetzen herunterhing. Der Anblick war deprimierend, sollte sich gerade aus diesem Blick auf den zerrissenen Strumpf auf dem ölbeschmierten, ja schon blutigen Bein eine Tragödie entwickeln? Ich hatte Straß vor mir. Ich kannte die Landschaft und ihre Ortschaften von mehreren Bahnreisen zu meiner Tante Fanny, die mit meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter, verheiratet war. Es hatte jetzt alles eine vollkommen andere Perspektive. Sollten meine Lungenflügel nicht mehr die Kraft bis Salzburg haben? Ich schwang mich auf das Rad und trat in die Pedale, es war jetzt mehr aus Verzweiflung und Ehrgeiz denn aus Verzückung und Enthusiasmus, daß ich die berühmte Rennfahrerhaltung einnahm, um die Geschwindigkeit noch einmal steigern zu können. Hinter Straß, von wo aus man schon Niederstraß sehen kann, riß die Kette und verwickelte sich erbarmungslos in den Speichen des Hinterrades. Ich war in den Straßengraben katapultiert worden. Ohne Zweifel, das war das Ende. Ich stand auf und blickte mich um. Es hatte mich niemand beobachtet. Es wäre zu lächerlich gewesen, in diesem fatalen Kopfsprung ertappt worden zu sein. Ich hob das Fahrrad auf und versuchte, die Kette aus den Speichen zu ziehen. Mit Öl und Blut verschmiert, zitternd vor Enttäuschung, blickte ich in die Richtung, in welcher ich Salzburg vermutete. Immerhin, ich hätte nur noch zwölf oder dreizehn Kilometer zu überwinden gehabt. Erst jetzt war ich darauf gekommen, daß ich die Adresse meiner Tante Fanny gar nicht kannte. Ich hätte das Haus im Blumengarten niemals gefunden. Auf meine Frage: wo ist oder wo wohnt meine Tante Fanny? hätte es, wäre ich tatsächlich bis Salzburg gekommen, gar keine oder mehrere hundert Antworten gegeben. Ich stand da und beneidete die Vorüberfahrenden in ihren Automobilen und auf ihren Motorrädern, die von meiner verunglückten Existenz keinerlei Notiz nahmen. Wenigstens ließ sich das Hinterrad wieder drehen, also konnte ich das Steyr-Waffenrad meines Vormunds schieben, allerdings dahin zurück, wo nurmehr das Unheil auf mich wartete und wo es aufeinmal jäh finster zu werden drohte. Im Überschwang meines Ausflugs hatte ich naturgemäß auch kein Zeitgefühl mehr gehabt, und zu allem Überdruß war auch noch von einem
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