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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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tröstete mich nicht, im Gegenteil, jetzt fühlte ich mich vollkommen ausgeschlossen. Die ganze menschliche Gesellschaft stand mir als einzigem, der nicht zu ihr gehörte, gegenüber. Ich war ihr Feind. Ich war der Verbrecher. Ich verdiente es nicht mehr, in ihr zu sein, sie verwahrte sich gegen mich. Harmonie, Lustigkeit, Geborgenheit, darin hatte ich nichts mehr zu suchen. Jetzt zeigt der Finger der ganzen Welt auf mich, tödlich. Während des Tanzes wurde meine Erbärmlichkeit nicht zur Kenntnis genommen, aber dann, als die Paare das Podium verließen, war ich entdeckt. Ich schämte mich zutiefst, gleichzeitig war ich glücklich, angesprochen zu sein. Woher? Wohin? Wer und wo sind deine Eltern? Sie haben kein Telefon? Nun gut, setz dich her. Ich setzte mich. Trink! Ich trank. Deck dich zu. Ich deckte mich zu. Ein derber Förstermantel schützte mich. Die Kellnerin fragte, ich antwortete und weinte. Das Kind fiel aufeinmal wieder kopfüber in seine Kindheit hinein. Die Kellnerin berührte es am Nacken. Streichelte es. Es war gerettet. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß dieses Kind das scheußlichste Kind ist von allen Kindern.
Du hast mir noch gefehlt!
war der immer wiederkehrende Ruf meiner Mutter. Ich höre ihn auch heute noch deutlich. Ein Schreckenskind! Ein Fehltritt! Ich kauerte geduckt in einer finsteren Ecke der Wirtsstube und beobachtete die Szene. Die Natürlichkeit der Menschen auf und vor dem Podium gefiel mir. Hier
zeigte
sich eine Welt und Gesellschaft und gab sich vollkommen anders als die meinige. Ich gehörte nicht dazu, ob ich wollte oder nicht, auch die Meinigen gehörten nicht dazu, ob sie wollten oder nicht. Aber existierten wirklich die einen natürlich und die andern künstlich, diese natürlich, die Meinigen künstlich? Ich war nicht imstande, meine Vorstellung zu einem Gedanken zu machen. Ich liebte die Klarinette und hörte insgeheim nur ihr zu. Mein Lieblingsinstrument und ich, wir waren hier eine Verschwörung. Zwei Burschen, hieß es, würden mich nachhause bringen, aber nicht vor Mitternacht. Sie tanzten, soviel sie konnten, und ich freundete mich mit ihnen an. Die Freundschaft begann in der ersten Beobachtung. Die Kellnerin brachte mir immer wieder etwas zu essen und zu trinken, die Leute waren mit sich selbst beschäftigt, sie ließen mich, außer daß sie mich fütterten, in Ruhe. Ich hätte hier glücklich sein können in dieser Umgebung, ich liebte die Wirtsstuben und ihre ausgelassenen Gesellschaften. Aber ich war nicht so dumm, meine entsetzliche Zukunft zu ignorieren. Was, wenn ich hier weggehe, auf mich zukommt, ist furchtbarer als alles Furchtbare vorher. Mein Instinkt hatte mich nie im Stich gelassen. War ich auch ein armseliges Bündel Mensch, das, immer noch bis auf die Haut durchnäßt, in dem ihm zugewiesenen Winkel kauerte, so hatte ich doch mein Schauspiel, meine lehrreiche Szene, mein Puppentheater. Kein Wunder, daß ich eingeschlafen war, als mich die beiden Burschen weckten, unsanft, in ihrer derben Art. Sie schulterten mich und trennten mich von Musik und Tanz. Eine eiskalte, sternklare Nacht. Der eine hatte mich vor sich auf sein Rad gesetzt, sodaß ich mich an der Lenkstange anhalten konnte, der andere fuhr einhändig und hatte mein Rad neben sich. Sie radelten, so schnell sie konnten, nach Surberg, wo sie zuhause waren. Kein Wort, nur das Keuchen der beiden Erschöpften. Vor ihrem Haus luden sie mich ab, ihre Mutter kam, nahm mich ins Haus mit hinein und zog mir meine Kleider aus und hängte sie neben einem noch heißen Ofen auf. Sie gab mir Milch zu trinken, in die sie Honig gerührt hatte. Sie versorgte mich mütterlich, aber sie gab mir, ohne Wörter, nur durch ihr Schweigen zu verstehen, daß sie mein Verhalten entschieden mißbilligte, sie wußte auch ohne Erklärung meinerseits Bescheid. Es war nicht schwer gewesen, den Fall aufzuklären. Was werden deine Eltern sagen? sagte sie. Ich selbst war mir sicher, was mit mir geschehen würde, war ich zuhause. Die Burschen hatten mir ihr Versprechen gegeben, mich nachhause zu bringen. Als ich getrocknet war und nicht mehr zitterte vor Kälte, schon gewöhnt an die Stubenwärme in dem fremden, aber gemütlichen Bauernhaus, schlüpfte ich aus dem Barchenthemd, das mir die Bäuerin übergezogen hatte, und wieder in meine Kleider. Die Burschen schulterten mich und brachten mich nach Traunstein. Sie setzten mich auf dem Taubenmarkt vor der Haustür ab und waren weg. Ich hatte keine Zeit gehabt, mich zu

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