Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
wir loben dich
. Wir stürzten auch nicht mehr um sechs Uhr aus den Betten und in den Waschraum und dann in die Studierstube, um dort die ersten Nachrichten aus dem Führerhauptquartier zu hören, sondern um die Heilige Kommunion in der Kapelle zu empfangen, und es war so, daß die Zöglinge jeden Tag zur Kommunion gingen, also über dreihundertmal im Jahr, und ich denke, jeder für sein ganzes Leben in dieser Zeit. Die äußeren Spuren des Nationalsozialismus in Salzburg waren tatsächlich vollkommen ausgelöscht gewesen, als hätte es diese entsetzliche Zeit nie gegeben. Jetzt war der Katholizismus wieder aus seiner Unterdrückung herausgetreten, und die Amerikaner beherrschten alles. Die Not ist in dieser Zeit eine noch viel größere Not gewesen, die Leute hatten nichts zum Essen und nur das Notwendigste und Schäbigste zum Anziehen, am Tage räumten sie die riesigen Schuttberge ab und am Abend strömten sie in die Kirchen hinein. Die Farbe der Mächtigen war jetzt wieder, wie vor dem Kriege, schwarz, nicht mehr braun. Überall waren Gerüste aufgestellt, und die Menschen bemühten sich, an diesen Gerüsten Mauern aufzurichten, aber es war ein langsamer und langwieriger und fürchterlicher Prozeß. Auch im Dom waren Gerüste aufgestellt, und schon bald war mit dem Kuppelneubau begonnen worden. Die Krankenhäuser waren jetzt nicht mehr nur von Kriegsverstümmelten belegt gewesen, sondern sie waren überfüllt von Tausenden von Halbverhungerten und vor Hunger und Verzweiflung Absterbenden. Der Geruch der Verwesung lag noch jahrelang über der Stadt, unter deren wiederaufgebauten Gebäuden der Einfachheit halber die meisten Toten liegen gelassen waren. Erst jetzt, im Abstand von ein paar Monaten, war das ganze Ausmaß der Zerstörungen auch in dieser Stadt sichtbar geworden, und es hatte sich der Bewohner eine tiefe, jetzt aufeinmal tiefgehende Traurigkeit bemächtigt gehabt, in jedem einzelnen, denn die Schäden schienen nicht mehr reparierbar zu sein. Jahrelang ist die Stadt nichts anderes als ein süßlich nach Verwesung stinkender Schutthaufen gewesen, in welchem, wie zum Hohn, alle Kirchentürme stehengeblieben waren. Und es hatte den Anschein, als richtete sich die Bevölkerung jetzt an diesen Kirchentürmen wieder langsam auf. Noch gab es nichts als Arbeit und Hoffnungslosigkeit, denn die Hoffnung bei Kriegsende war durch viele Rückschläge und durch den sich verstärkenden Hunger immer wieder abgeschwächt worden. Die Verbrechen hatten jedes bekannte Ausmaß überstiegen, und die Angst war in dieser unmittelbaren Nachkriegszeit eine noch viel größere Angst, jeder hätte jeden umbringen können aus Hunger. Die Leute sind wegen eines Brotstückes oder weil sie noch einen Rucksack besessen haben, umgebracht worden. Es rettete sich, wer konnte, und die meisten konnten sich retten, indem sie ganz einfach auf beinahe alles verzichteten. Auch in dieser Stadt hatte es beinahe nur Trümmer und solche auf diesen Trümmern Herumlaufende und Herumsuchende gegeben, und nichts als der Hunger hat sie in dieser Zeit auf die Straße geführt, ganze Scharen von Menschen am Morgen nach einem Lebensmittelaufruf. Die Stadt war voller Ratten. Die Sexualexzesse der Besatzungssoldaten verbreiteten unter der Bevölkerung
Angst und Schrekken
. Der Großteil der Bevölkerung lebte noch immer von den Plünderungen der letzten Kriegstage. Ein ungeheuerer Tauschhandel mit Lebensmitteln und Kleidungsstücken aber hatte ihre Lebensgeister wach gehalten. In dieser Zeit war es mir möglich gewesen, durch die Vermittlung einer im Ernährungsamt in Traunstein angestellten, ursprünglich aus Leipzig stammenden Freundin meiner Mutter einen Lastwagentransport mit Kartoffeln von Traunstein über die Grenze nach Salzburg zu organisieren, und von diesem Kartoffeltransport, mehrere tausend Kilo hatten auf dem Lastwagen Platz gehabt, hatte sich das Johanneum längere Zeit über Wasser halten können. Es hatte nur Halbverhungerte in der Stadt gegeben, die sich von den Amerikanern den Luxus, sich sattessen zu können, erbettelten. In diesem aufeinmal wieder zur Gänze hoffnungslosen Zustand, der auf die sogenannte Befreiung als ein Aufatmen nach der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft eingetreten war, machte die Stadt jahrelang einen verkommenen und total lebensüberdrüssigen Eindruck, es schien, als hätten sie die Stadt und sich selbst aufgegeben, nur wenige hatten den Mut und die Kraft, etwas gegen die allgemeine Verzweiflung zu tun. Die
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