Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
weil er es im Grunde nicht wollte, verabscheute, nichts zu tun. Diese Übungsstunde auf der Geige in der beinahe vollkommen finsteren Schuhkammer, in welcher die bis an die Decke geschlichteten Zöglingsschuhe ihren in der Schuhkammer eingesperrten Leder- und Schweißgeruch mehr und mehr verdichteten, war ihm
die einzige Fluchtmöglichkeit
. Sein Eintritt in die Schuhkammer bedeutete gleichzeitiges Einsetzen seiner Selbstmordmeditation und das intensivere und immer noch intensivere Geigenspiel eine immer intensivere und immer noch intensivere Beschäftigung mit dem Selbstmord. Tatsächlich hat er in der Schuhkammer viele Versuche gemacht, sich umzubringen, aber keinen dieser Versuche
zu weit
getrieben, das Hantieren mit Stricken und Hosenträgern und die Hunderte von Versuchen mit den in der Schuhkammer zahlreichen Mauerhaken waren immer in dem entscheidenden lebensrettenden Punkte abgebrochen worden und von ihm durch bewußteres Geigenspiel, durch ganz bewußtes Abbrechen des Selbstmorddenkens und ganz bewußte Konzentration auf die ihn mehr und mehr faszinierenden Möglichkeiten auf der Geige, die ihm mit der Zeit weniger ein Musikinstrument als vielmehr ein Instrument zur Auslösung seiner Selbstmordmeditation und Selbstmordgefügigkeit und zum plötzlichen Abbrechen dieser Selbstmordmeditation und Selbstmordgefügigkeit gewesen war; einerseits hochmusikalisch (Steiner), andererseits naturgemäß einer vollkommenen
Nicht
disziplin Vorschriften betreffend verfallen (ebenso Steiner), hatte sein Geigenspiel und vornehmlich in der Schuhkammer einen durch und durch nur seinem Selbstmorddenken entgegenkommenden Zweck, keinen andern, und seine Unfähigkeit, den Befehlen Steiners zu gehorchen, auf der Geige, und das heißt in dem Geigenstudium als solchem weiterzukommen, war offensichtlich gewesen. Das Selbstmorddenken, das ihn im Internat und außerhalb beinahe ununterbrochen beschäftigte und welchem er sich in dieser Zeit und in dieser Stadt durch nichts und in keiner Geistesverfassung entziehen hatte können, war ihm in dieser Zeit mit seiner Geige und mit seinem Spiel auf der Geige wie mit nichts anderem verbunden gewesen, und es war damals immer schon allein
durch den Gedanken an das Geigenspiel
und dann intensiv mit dem Auspacken der Geige und mit dem angefangenen Geigenspiel in Gang gekommen als ein Mechanismus, dem er sich mit der Zeit vollkommen ausliefern hatte müssen und der erst mit der Zerstörung der Geige zum Stillstand gekommen ist. Er hat später, wenn ihm die Schuhkammer zu Bewußtsein gekommen ist, sehr oft gedacht, ob es nicht besser gewesen wäre, in dieser Schuhkammer seine Existenz abzuschließen, seine ganze Zukunft, gleich, was ihr Inhalt war, mit dem Selbstmord zu liquidieren, wenn er den Mut dazu gehabt hätte, als diese alles in allem auf jeden Fall vollkommen fragwürdige Existenz, deren Inhalt mir jetzt bekannt ist, über Jahrzehnte fortzusetzen. Er war aber für einen solchen Entschluß immer zu schwach gewesen, während so viele im Internat in der Schrannengasse Selbstmord gemacht haben, diesen Mut aufgebracht haben, merkwürdigerweise keiner in der Schuhkammer, die doch für den Selbstmord die ideale gewesen wäre, sie hatten sich alle aus den Schlafzimmerfenstern, aus den Abortfenstern gestürzt oder im Waschraum an den Brausen aufgehängt, hatte er
nie die Kraft und die Entschiedenheit und Charakterfestigkeit für den Selbstmord
aufgebracht. Tatsächlich haben sich während seiner Zeit und wieviele vorher und nachher!,
im
Internat in der Schrannengasse, allein in der nationalsozialistischen Zeit zwischen Herbst dreiundvierzig (seinem Eintreten) und Herbst vierundvierzig (seinem Austreten), vier Zöglinge umgebracht, aus dem Fenster gestürzt, aufgehängt und viele andere aus der Stadt aus unerträglicher Kopfverzweiflung vom Schulweg abgekommene Schüler von den beiden Stadtbergen gestürzt, mit Vorliebe vom Mönchsberg direkt auf
die asphaltierte Müllner Hauptstraße, die Selbstmörderstraße
, wie ich diese fürchterliche Straße immer betitelt habe, weil ich sehr oft auf ihr zerschmetterte Menschenkörper liegen gesehen habe, Schüler oder Nichtschüler, aber vornehmlich Schüler, Fleischklumpen in bunten Kleidungsstücken, der Jahreszeit entsprechend. Auch heute, drei Jahrzehnte später, lese ich immer wieder in regelmäßigen Abständen und gehäuft im Frühjahr und im Herbst von selbstgemordeten Schülern und anderen, jährlich von Dutzenden, obwohl es, wie ich weiß, Hunderte
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