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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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verdorben waren, weil sie mit ihr nicht in Berührung gekommen waren. Ich liebte, was ich jetzt sah, und nahm es ernst. Tage, an welchen Hunderte Menschen im Geschäft waren und an welchen der Keller um acht Uhr früh wie nichts anderes als eine Lebensmittelfestung gestürmt worden war von den Hungernden und halb Verhungerten, wechselten mit Tagen ab, die den alten Vereinsamten und den Trinkerinnen gehörten. Der Keller als Lebensmittelgeschäft des Karl Podlaha aber war immer der Mittelpunkt der Siedlung gewesen, hier gab es keinen anderen Unterhaltungsort, kein Gasthaus, kein Kaffeehaus, nur die ganz auf die Vernichtung und auf die Kompromittierung ihrer Bewohner hin konstruierten Bauten, in deren Eintönigkeit und Abscheulichkeit jedes, ganz gleich welches Gemüt verkommen und absterben und zugrunde gehen mußte. In den Keller kamen die Frauen, auch wenn sie nichts einzukaufen hatten, ganz ohne den geringsten Einkaufsgrund, immer wieder plötzlich beinahe alle zu irgendeiner Zeit aus Verlegenheit, nur um ein paar Worte wechseln zu können, es war klar schon bei ihrem Erscheinen auf der Betontreppe und vollkommen klar, waren sie in den Keller herunter- und hereingekommen, daß sie nur ihrem entsetzlichen Zuhause entflohen waren auf eine Beruhigung, auf eine Lebensmöglichkeit. Der Keller ist für viele dieser Siedlungsmenschen immer wieder die einzige und letzte Rettung gewesen. Viele hatten sich den Kellerbesuch zur Gewohnheit gemacht und erschienen tagtäglich, nicht aus Geldmangel betraten sie unter Umständen mehrere Male am Tag den Keller, um eine Kleinigkeit, fünf Deka Butter zum Beispiel, einzukaufen, sondern weil sie auf diese Weise die Möglichkeit hatten, in, wie es schien, lebensnotwendigen kürzeren Abständen in den Keller herunterzukommen, ihrer in vielen Fällen tödlichen Umgebung zu entfliehen. Die Verlegenheit, mit welcher sie in den Keller herunterkamen, war ihnen ein Unschuldsbeweis. Erst jetzt, in diesen Tagen meiner neuen Umgebung, hatte ich wieder den direkten, den unmittelbaren direkten Zugang zu Menschen, ein solcher unmittelbarer, direkter Zugang zu Menschen war mir jahrelang nicht mehr möglich gewesen, mein Kopf zuerst, dann auch mein Gemüt waren unter der tödlichen Haube der Schule und ihrer Unterrichtszwänge schon beinahe erstickt, und alles außerhalb der Schule und ihrer Zwänge hatte ich jahrelang nurmehr noch undeutlich, durch den Nebel des Unterrichtsstoffes wahrgenommen, jetzt sah ich wieder Menschen, und ich hatte den unmittelbaren Kontakt mit ihnen. Ich hatte jahrelang in Büchern und Schriften und unter Köpfen existiert, die nichts anderes als Bücher und Schriften gewesen waren, in dem muffigen Geruch der verschimmelten und vertrockneten Geschichte, fortwährend so, als ob ich selbst schon Geschichte gewesen wäre. Jetzt existierte ich in der Gegenwart, in allen ihren Gerüchen und Härtegraden. Ich hatte diesen Entschluß gefaßt und diese Entdeckung gemacht. Ich lebte, jahrelang war ich schon tot gewesen. Die meisten meiner Eigenschaften, absoluten Vorzüge meines Charakters, waren schon in den ersten Tagen im Keller wieder zum Vorschein gekommen, nachdem sie jahrelang verschüttet und von den Widrigkeiten der Erziehungsmethoden zugedeckt gewesen waren, entwickelten sie sich wie von selbst in der neuen Umgebung, die einerseits von meinen Mitarbeitern im Geschäft, andererseits von den Kunden als Menschen oder Menschen als Kunden geprägt gewesen war und vor allem in der, wie ich gleich bemerkte, ungeheueren
Nützlichkeit
des Spannungsverhältnisses zwischen diesen beiden Menschengruppen, in welchem ich meine Arbeit verrichtete, eine Arbeit, die mir vom ersten Augenblick an Vergnügen gemacht hatte. Da ich zu dem Zeitpunkt eines Lebensmittelaufrufs in das Lehrverhältnis eingetreten war, bestand meine Tätigkeit schon Stunden nach Lehrstellenantritt nicht mehr nur aus Zusammenkehren und Ordnungmachen, gegen Abend, als sich die Ermüdung meiner Mitarbeiter bemerkbar machte, war ich schon auf die Probe gestellt worden und verkaufte, und ich hatte die Probe bestanden.
Ich wollte von Anfang an nicht nur nützlich sein, ich war nützlich, und meine Nützlichkeit war zur Kenntnis genommen worden
, wie bis zu meinem Eintreten in den Keller meine Nutzlosigkeit zur Kenntnis genommen worden war, so viele Jahre der Nutzlosigkeit habe ich mit meiner Entscheidung, in die Lehre zu gehen, abbrechen können, wie ich alt geworden bin, dachte ich. Und heute weiß ich, daß tatsächlich

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