Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
diese Kellerjahre die nützlichsten Jahre meines Lebens gewesen sind, wie ich weiß, daß die Jahre vorher nicht vollkommen nutzlos gewesen waren, aber damals, bei meinem Eintritt in den Keller und mit dem Aufgenommensein in die Arbeitsgemeinschaft Podlaha, hatte ich hundertprozentig das Gefühl gehabt, daß alles vorher völlig nutzlos gewesen sei. Die Kellerzeit war vom ersten Augenblick an eine kostbare Zeit gewesen, keine sich endlos und sinnlos durch meinen Kopf ziehende, meine Nerven abtötende, unendlich hoffnungslose, auf einmal existierte ich
intensiv, naturgemäß, nützlich
. Die Schwierigkeiten, die sich mir in den Weg gestellt hatten, waren gleich überwunden, ja es hatte im Grunde keinerlei Schwierigkeiten gegeben, alles, was sich mir im Keller in den Weg gestellt hatte, war ja von mir gewünscht, alles war Abkehr gewesen von meiner bisherigen Existenz, das genaue Gegenteil in fast allem, eine rücksichtslose Demaskierung hatte sich hier schon in den ersten Tagen vollzogen gehabt, die von mir jahrelang als eine Schrekkenszeit empfundene hatte sich hier tatsächlich als eine schreckliche Zeit erwiesen, alles aufeinmal ein Trugschluß, ein Irrtum, das wollte ich ja. Wenn ich vorher geglaubt hatte, ich hätte nicht die geringste Zukunft, aufeinmal hatte ich eine solche, und jeder Augenblick hatte plötzlich, was längst schon abgestorben gewesen war, Faszination. Ich redete mir nicht, wie vorher so oft, immer wieder nur eine Zukunft ein, ich hatte sie. Ich hatte mein Leben wieder. Und ich hatte es aufeinmal wieder vollkommen in der Hand. Ich hatte nur eine Kehrtwendung machen müssen auf der Reichenhaller Straße, dachte ich, und anstatt ins Gymnasium in die Lehre zu gehn, anstatt in den Schulpalast in den Keller. In der Scherzhauserfeldsiedlung sah ich die Menschen, von welchen ich immer gehört, die ich aber niemals gesehen hatte, von meinem Großvater wußte ich, daß es diese Unglücksmenschen in Armut und in Verzweiflung gibt, aber ich hatte sie nie aus nächster Nähe gesehen. Die Verantwortlichen der Stadt taten alles, um die Zustände, die in der Scherzhauserfeldsiedlung herrschten, zu vertuschen, aber die Zeitungen berichteten darüber, und später, als Gerichtsberichterstatter für das
Demokratische Volksblatt
, habe ich selbst wöchentlich über Angeklagte aus der Scherzhauserfeldsiedlung zu berichten gehabt. Die meisten von ihnen waren mir von meiner Kellerlehrstelle her bekannt, und es war damals schon vorauszusehen gewesen, daß sie eines Tages vor Gericht stehen würden, der Grund, warum sie jetzt vor Gericht stehen, habe ich dann immer während der Verhandlungen gedacht, ist alles das, das ich selbst aus meiner eigenen Kellerzeit zu gut kenne. Die Richter kannten nicht, was ich kannte, und sie machten sich auch nicht die Mühe, einem Menschenschicksal auf den Grund zu gehen, sie verhandelten eine Sache wie die andere, hielten sich an die Papiere und an die sogenannten unumstößlichen Tatsachen und urteilten ab, ohne den Abgeurteilten zu kennen und ohne die Umwelt des Abgeurteilten zu kennen und ohne seine Geschichte zu kennen und ohne die Gesellschaft zu kennen, die ihn zu dem Verbrecher gemacht hatte, zu welchem er vor Gericht abgestempelt wurde. Die Richter hielten sich beinahe ausschließlich an die Papiere und zerstörten mit ihren brutalen, geistlosen und völlig gefühllosen, ja geistfeindlichen und gefühlsfeindlichen Gesetzen den Menschen, der ihnen vorgeführt wurde. An jedem Tag mindestens einmal zerstörte die schlechte Laune eines Richters das Leben und die Existenz eines dieser Menschen als Angeklagten, das festzustellen, war und ist fürchterlich. Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, den Richterstand zu skizzieren, ich will nur sagen, Jahre nachdem ich meine Lehre im Keller beendet gehabt hatte, traf ich viele von den Kellerkunden vor den Gerichtsschranken wieder, und auch heute noch werde ich, wenn ich die Zeitungen aufmache, mit Namen konfrontiert, die ich aus dem Keller kenne, mit Kellerschicksalen, mit Scherzhauserfeldsiedlungsmenschen, die in die Gerichtsspalten kommen, auch heute noch, dreißig Jahre nach meiner Kellerlehre, in die Gerichtsspalten kommen. Ich wußte, warum ich die Beamtin im Arbeitsamt Dutzende von Karteikarten aus dem Karteikasten herausnehmen hatte lassen, ich wollte
in die entgegengesetzte Richtung
, diesen Begriff
in die entgegengesetzte Richtung
hatte ich mir auf dem Weg in das Arbeitsamt immer wieder vorgesagt, immer wieder
in die entgegengesetzte
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