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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Scherzhauserfeldsiedlung immer die Siedlung gewesen, aus welcher nur das Verbrechen in die übrige Stadt kommen konnte, und kam ein Mensch aus der Scherzhauserfeldsiedlung, so bedeutete das nichts anderes, als ein Verbrecher kommt in die Stadt. Ganz unumwunden war das immer auch ausgesprochen worden, und die Leute aus der Scherzhauserfeldsiedlung waren immer schon kopfscheu gewesen, sie mußten, nach jahrzehntelanger Anschuldigung und Verächtlichmachung, mit der Zeit selbst daran glauben, daß sie seien, als was man sie bezeichnete,
ein Verbrechergesindel
, und es ist kein Wunder, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an, er liegt weit zurück, vier oder fünf Jahrzehnte, die Scherzhauserfeldsiedlung die ununterbrochene Lieferantin des salzburgischen Gerichtsfutters geworden war, eine unerschöpfliche Quelle für die österreichischen Zuchthäuser und Strafanstalten. Die Polizei und die Gerichte beschäftigten sich jahrzehntelang mit der Scherzhauserfeldsiedlung intensiv, aber nicht die Stadtverwaltung, und die sogenannte Sozialfürsorge benützte die Scherzhauserfeldsiedlung nur als Alibi zur Vertuschung ihrer grenzenlosen Unfähigkeit. Auch heute, weit über drei Jahrzehnte nach meiner Tätigkeit in der Scherzhauserfeldsiedlung, lese ich, wenn ich die Salzburger Zeitungen aufschlage, von dem Zusammenhang beinahe aller Salzburger Strafprozesse und auch heute noch immer wieder Totschlags- und Mordprozesse mit der Scherzhauserfeldsiedlung. Die Verhältnisse dort können sich nur, denke ich über dreißig Jahre zurück, verschlimmert haben. Heute sind dort Wohnblöcke und Hochhäuser, Auswüchse unserer geistlosen und geistfeindlichen und phantasielosen und phantasiefeindlichen Zeit, wo damals, vor dreißig Jahren, Wiesen gewesen sind, ich bin über weite Wiesen in die Arbeit gegangen, an der Blindenanstalt und an der Taubstummenanstalt vorbei, an der Lehener Post vorbei über Wiesen und über ganz gewöhnliche Schotterwege, durch eine Unzahl von Naturgerüchen, die es auf diesem Weg heute gar nicht mehr gibt, den Grasgeruch und den Erdgeruch und den Tümpelgeruch da, wo heute nurmehr noch der menschenverblödende Gestank der Auspuffgase ist. Zwischen der Stadt und der Scherzhauserfeldsiedlung waren, wie wenn die Stadt Abstand davon haben wollte, ein Wiesen- und Feldergürtel, da und dort grobgezimmerte Schweineställe, da und dort ein kleineres oder größeres Flüchtlingslager, Behausungen von verkommenen Hundenarren und -närrinnen, Bretterbuden von Huren und Säufern, die die Stadt irgendwann einmal ausgespien hat. Die Stadt hat, genau in dem Abstand von ihr, der ihr notwendig erschien, eine billige und menschentötende Siedlung in diese Wiesen hineingebaut, eine Siedlung für ihre Ausgestoßenen, für ihre Ärmsten und Verwahrlosesten und Verkommensten und naturgemäß immer Kränklichsten und Verzweifeltsten, für ihren Menschenausschuß gerade so weit weg, daß sie nicht damit konfrontiert wurde, wer nicht wollte, hatte sein ganzes Leben lang keine Kenntnis von dieser Siedlung, die an die sibirischen Straflager erinnerte nicht nur wegen der Numerierung ihrer Blöcke. Mehrere Stufen führten in der Mitte der einstöckigen Blöcke hinauf in ein enges Vorhaus, von welchem aus man beidseitig in die Behausungen, die man heute nicht Wohnungen nennen kann, hineinkam, die Wohnungen hatten ein oder zwei Zimmer, die kinderreichsten Familien hausten in den Zweizimmerwohnungen, das Wasser war auf dem Gang, es gab nur einen gemeinsamen Abort, die Wände dieser Blöcke waren aus Heraklithplatten zusammengesetzt, mit billigem Mörtel angeworfen. Nur die dreistöckigen Blöcke waren Ziegelbauten, und in ihnen wohnten sozusagen die privilegierteren Proletarier, auch der Lebensmittelkeller war in einem solchen dreistöckigen Bau. An jedem Tag ein Familienexzeß, an jedem Tag mindestens einmal der Polizeiwagen um die Ecke, der Krankenwagen, um einen halb Erschlagenen oder Erstochenen zu bergen, der Leichenwagen, um einen elendig in seinem Bett Weggestorbenen abzuholen, einen Umgebrachten. Die Kinder waren die meiste Zeit auf den Straßen, die einzigen Straßen in Salzburg, die keine Namen hatten, und schrien und lärmten, weil sie auf den Straßen Platz hatten zum Schreien und Lärmen, und mit ihrem Schreien und Lärmen deckten sie die fürchterliche Stille in der Scherzhauserfeldsiedlung zu, die ohne das Schreien und Lärmen tödlich gewesen wäre. Zuhause deutete ich an, was ich sah, aber wie immer, wo man Menschen etwas

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