Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
als Wahrheiten vertraut sind. Das Gedächtnis hält sich genau an die Vorkommnisse und hält sich an die genaue Chronologie, aber was herauskommt, ist etwas ganz anderes, als es tatsächlich gewesen ist. Das Beschriebene macht etwas deutlich, das zwar dem
Wahrheitswillen
des Beschreibenden, aber nicht der Wahrheit entspricht, denn die Wahrheit ist überhaupt nicht mitteilbar. Wir beschreiben einen Gegenstand und glauben, wir haben ihn wahrheits
gemäß
und wahrheits
getreu
beschrieben, und müssen feststellen, es ist nicht die Wahrheit. Wir machen einen Sachverhalt deutlich, und es ist nicht und niemals der Sachverhalt, den wir deutlich gemacht haben wollen, es ist immer ein anderer. Wir müssen sagen, wir haben nie etwas mitgeteilt, das die Wahrheit gewesen wäre, aber den
Versuch
, die Wahrheit mitzuteilen, haben wir lebenslänglich nicht aufgegeben. Wir wollen die Wahrheit sagen, aber wir sagen nicht die Wahrheit. Wir beschreiben etwas wahrheitsgetreu, aber das Beschriebene ist etwas anderes als die Wahrheit. Wir müßten die Existenz als den Sachverhalt, den wir beschreiben wollen, sehen, aber wir sehen, so sehr wir uns bemühen, durch das von uns Beschriebene niemals den Sachverhalt. In dieser Erkenntnis hätten wir längst aufgeben müssen, die Wahrheit schreiben zu wollen, und also hätten wir das Schreiben überhaupt aufgeben müssen. Da die Wahrheit mitzuteilen und also zu zeigen, nicht möglich ist, haben wir uns damit zufriedengestellt, die Wahrheit schreiben und beschreiben zu wollen, wie die Wahrheit zu sagen, auch wenn wir wissen, daß die Wahrheit niemals gesagt werden kann. Die Wahrheit, die wir kennen, ist logisch die Lüge, die, indem wir um sie nicht herumkommen, die Wahrheit ist. Was hier beschrieben ist, ist die Wahrheit und ist doch nicht Wahrheit, weil es nicht die Wahrheit sein kann. Wir haben in unserer ganzen Leseexistenz noch niemals eine Wahrheit gelesen, auch wenn wir immer wieder Tatsachen gelesen haben. Immer wieder nichts anderes als die Lüge als Wahrheit, die Wahrheit als Lüge et cetera. Es kommt darauf an,
ob wir lügen wollen oder die Wahrheit sagen und schreiben
, auch wenn es niemals die Wahrheit sein kann, niemals die Wahrheit ist. Ich habe zeitlebens immer die Wahrheit sagen wollen, auch wenn ich jetzt weiß, es war gelogen. Letzten Endes kommt es nur auf den Wahrheitsgehalt der Lüge an. Die Vernunft hat es mir schon lange verboten, die Wahrheit zu sagen und zu schreiben, weil damit doch nur eine Lüge gesagt und geschrieben ist, aber das Schreiben ist mir die Lebensnotwendigkeit, darum, aus diesem Grunde schreibe ich, auch wenn alles, was ich schreibe, doch nichts als Lüge ist, die sich als Wahrheit durch mich transportiert. Wir können wohl Wahrheit verlangen, aber die Aufrichtigkeit beweist uns, daß es die Wahrheit nicht gibt. Was hier beschrieben ist, ist die Wahrheit, und sie ist es nicht aus dem einfachen Grund, weil die Wahrheit uns nur ein frommer Wunsch ist. Die Frage, warum jetzt die Lehrzeit und nicht später, zu einem Zeitpunkt, in welchem möglicherweise von mir mit nicht soviel Vorbehalt als Krampf zu berichten wäre, ist leicht beantwortet: die Stadtgemeinde ist, wie ich aus der Zeitung erfahren habe, darangegangen, die Scherzhauserfeldsiedlung niederzureißen, die ein halbes Jahrhundert alten Ziegel- und Heraklithzeugen abzutragen, die Vorhölle oder die eigentliche Hölle, wie immer, einzuebnen, die Mauern zu zertrümmern, in welchen jahrzehntelang so viel unnützes Unglück geschehen ist. Eine kurze Zeitungsnotiz hat in meinem Kopf wieder in Gang gebracht, was vor langer Zeit in meinem Gedächtnis zum Stillstand gekommen war, den Erinnerungsmechanismus, die Scherzhauserfeldsiedlung betreffend, die fürchterliche Menschensiedlung als Stiefkind der Stadt, von welcher sich alle und jeder fortwährend distanziert hatten. Zu sagen, man sei
aus
oder
in
der Scherzhauserfeldsiedlung oder man arbeite in der Scherzhauserfeldsiedlung oder überhaupt, man habe etwas, gleich was, mit der Scherzhauserfeldsiedlung zu tun, war in jeder Beziehung schrecken- und ekelerregend gewesen. Ein Makel war es, von dort zu sein oder mit dort etwas zu tun zu haben, woraus man nicht sein kann und womit man nicht das geringste zu tun haben kann, und diesen Makel trugen alle Bewohner der Scherzhauserfeldsiedlung lebenslänglich, sie trugen ihn so lange, bis sie tot waren, tot, weil sie im Irrenhaus oder im Kerker oder auf dem Friedhof landeten. Schon die Kinder waren in diesen Geistes-
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