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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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und Gefühlszustand des Unerlaubten, also aus der Scherzhauserfeldsiedlung zu sein, hineingeboren, und sie litten ihr ganzes Leben daran, und die bis heute nicht an diesem Makel zugrunde gegangen sind, gehen in Zukunft daran zugrunde, auch wenn sie selbst das abstreiten sollten. Die Scherzhauserfeldsiedlung war ein Verzweiflungsghetto einerseits, ein Beschämungsghetto andererseits. Man merkte diesen Menschen an, daß sie aus der Scherzhauserfeldsiedlung waren, wie man in allen Städten und vor allem in allen Großstädten, wenn man darin geschult ist, jedem anmerkt, woher er kommt, aus welchem Viertel der Stadt, und der kritische Beobachter weiß im Augenblick der Begegnung, dieser ist aus dem Fegefeuer oder aus der Vorhölle oder aus der Hölle der Stadt. Von weitem schon erkannte man in dieser Stadt, die immer vorgegeben hat, keine Vorhölle, geschweige denn eine Hölle zu haben, die Vorhöllenoder die Höllenbewohner, verirrte, konfuse Geschöpfe, unsicher daherhastend und in jedem Falle als eine außen und innen unglückliche Natur erkennbar, Außenseiterexistenzen, waren sie als Scherzhauserfeldbewohner abgestempelt. Der Staat, die Stadt und die Kirche hatten an diesen Menschen längst versagt und aufgegeben. Die Bewohner der Scherzhauserfeldsiedlung waren Aufgegebene und aufgegeben nicht nur von der Umwelt als einer perversen Betrugs- und Geschmacksgesellschaft, sondern sie, die Scherzhauserfeldsiedlungsbewohner, hatten sich längst selbst aufgegeben. Als ob diese Menschen die Pest hätten, so begegnete man ihnen, sie waren schon bei ihrem Eintreten in ein Stadtgeschäft gescheitert, bei ihrem Auftauchen in einem Amt erniedrigt und gescheitert, bei ihrem Erscheinen vor Gericht schon abgeurteilt und erledigt. Die Salzburger Gesellschaft betrachtete insgesamt die Bewohner der Scherzhauserfeldsiedlung als die Bewohner eines Aussätzigenlagers, wie die Bewohner selbst, als ein Straflager, wie die Bewohner selbst, als ein Todesurteil, wie die Bewohner selbst. Hier verkümmerte das Leben und war im Grunde als nichts anderes möglich als ein ununterbrochenes Absterben, während ein paar hundert Meter weiter eine perverse Wohlstands- und Lustfabrik sich als die alleinige Beherrscherin der Welt gebärdete. Hier, aus der Scherzhauserfeldsiedlung, ausbrechen zu wollen und einen sozusagen besseren eigenen Weg zu gehen, war allen diesen Menschen als Unmöglichkeit bewußt, und die Beispiele derer, die einen solchen Ausbruchsversuch und einen solchen besseren eigenen Weg versucht haben, zeigen, daß ein solcher Ausbruchsversuch und ein solcher Versuch eines besseren eigenen Lebens nur in noch viel tiefere Verzweiflung und in noch viel größere Isolierung geführt hat. Die eines Tages weggegangen sind, sind, weil sie zeitlebens, gleich wohin sie gegangen sind, und gleich was sie gemacht haben, doch Bewohner der Scherzhauserfeldsiedlung geblieben sind, in der sogenannten Fremde umgekommen oder zurückgekommen, um noch viel elendiger in der Scherzhauserfeldsiedlung zugrunde zu gehen als die Daheimgebliebenen. Einer hatte sich in allen möglichen österreichischen und deutschen Städten als Schauspieler versucht und ist als sogenanntes
total verkommenes Subjekt
(so seine Mutter) nach mehreren Jahren zurückgekommen und auf dem halbverfaulten mütterlichen Diwan unter Krämpfen als ein ausgemergelter, kaum mehr als Mensch, geschweige denn als ein schöner Mensch, der er zweifellos gewesen war (so seine Mutter), krepiert. Einer hat es als Eintänzer, einer in Amerika, einer in Australien probiert wie Hunderte andere aus der Siedlung auch in Jahrzehnten, aber sie sind zurückgekommen und sind in der Scherzhauserfeldsiedlung verkommen und zugrunde gegangen. Die Mütter und die Väter haben darauf gewartet. Sie alle haben, sehr oft über das eiskalte Ausland, einen Umweg zu ihrem eigentlichen Ziel des Verkommens und Absterbens gemacht, während ihre Eltern und Geschwister und anderen Angehörigen sich versoffen und durch Saufen zerstört haben. Die Kinder sind in saufende und den ganzen Tag als einen ungewollten Stumpfsinn und als ein Verzweiflungsdelirium durchlaufende Familien hineingeboren, in welchen sie von Anfang an zersetzt und zerstört werden mußten. Sie brachten es in fast allen Fällen nicht weiter in ihrem Leben, das eine einzige fürchterliche Existenz gewesen war, als bis zur Putzfrau, waren sie weiblich, und bis zum Hilfs- und zum Kohlenarbeiter, waren sie männlich, und sie wechselten die Stellungen alle

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