Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
Vom Netzwerk:
Augenblicke, und sie flüchteten fortwährend in Krankheiten und in Verbrechen, und im Grunde war ihr fürchterliches Leben als fürchterliche Existenz nichts anderes als dieser fortwährende Wechsel zwischen Krankheit und Verbrechen gewesen bis in ihren Tod. Sie existierten in einem ununterbrochenen Anschuldigungs- und Beschuldigungsmechanismus, und sie beschuldigten alles und jedes, um sich Luft zu machen, um überhaupt atmen zu können, Gott und die Welt und sich selbst alle untereinander und gegenseitig. Sie existierten alle in einem ununterbrochenen
Anschuldigungs- und Beschuldigungswahnsinn als Todeskrankheit
. Sie hatten im Grunde nichts als Zersetzen und Zerstören, daraus existierten sie, aus nichts sonst, und sie zersetzten und zerstörten sich pausenlos gegenseitig. Sie existierten mit der tödlichen Intensität des tödlich Verzweifelten und flüchteten, Männer wie Frauen, abwechselnd in die Kranken- und Irrenhäuser und in die Gefängnisse. Zuerst hatte ich die Anzüglichkeiten gewisser Kundschaften, die dadurch nicht schlechter oder besser gewesen waren, nicht verstanden, nichts kapiert, und ich war ihren zweideutigen und dreideutigen und vieldeutigen Bemerkungen und Redensarten nicht auf den Grund gekommen, aber schon nach ein paar Tagen war mir klar gewesen, wovon sie redeten, und zwar auch, warum sie darüber redeten, worüber die Leute in der Stadt natürlich nicht offen redeten, und warum diese offene Rede mir eingeleuchtet und besser gefallen hat als die verschwiegene Heuchelei der anderen. Die sogenannten unanständigen Bemerkungen und Redensarten in ihren Hunderten und Tausenden von Variationsmöglichkeiten habe ich in der Scherzhauserfeldsiedlung natürlich in der kürzesten Zeit kennengelernt. Diese Leute hatten nie ein Blatt vor den Mund genommen. Ich hatte nur die kürzeste Zeit gebraucht, um mich an ihre
offene Art
zu gewöhnen, und sehr oft habe ich selbst alle diese Leute dann, nach ein paar Wochen und Monaten, in dem Erfindungsreichtum, dieses Thema betreffend, weit übertroffen und mich nicht zurückgehalten. Hier durfte ich, was ich zuhause niemals durfte, mich ganz einfach in dem ganzen Reichtum meiner Phantasie gehen lassen, daß es der Scherzhauserfeldsiedlung entsprechend gewesen war, ist nicht verwunderlich. Einmal mit dem Mechanismus der häufigsten Unterhaltungssparten im Keller vertraut, hatte ich gewonnen, ich nützte den Reichtum meiner außergewöhnlichen Kombinationsgabe aus und stellte selbst die Abgebrühtesten in den Schatten. Die Jugend und der Charme des Jünglings, der ich damals gewesen war, dazu die Gabe eines fortwährend paraten, in allen Farben und Zwischenfarben schillernden Wortschatzes, ich war gemacht. Es hatte fünf Hauptthemen der Kellerunterhaltung gegeben, die Lebensmittel, die Sexualität, den Krieg, die Amerikaner und, völlig isoliert von den schon angeführten, die Atombombe, deren Wirkung auf die japanische Stadt Hiroshima noch allen in den Knochen gewesen war. Die Lebensmittel und wie man an solche kommen konnte, beschäftigten zu dieser Zeit Tag und Nacht alle Leute, und es hatte natürlich Hunderte Wege und Kanäle zu den Lebensmitteln gegeben, der offizielle Weg zu Lebensmitteln waren die Lebensmittelmarken gewesen, die in bestimmten Abständen, je nach der Anlieferung und dem Vorhandensein bestimmter Lebensmittel, in den sogenannten Lebensmittelaufrufen in den Zeitungen und im Radio freigemacht worden sind. Aber es gab auch die inoffiziellen Wege zu den Lebensmitteln, unterirdische Kanäle zu den Amerikanern beispielsweise, in den Betrug, in den Diebstahl undsofort. Das ganze Volk war im strengen Sinne im Grunde kriminell geworden, um überleben zu können. Auch der Keller war nicht frei gewesen von Unrechtmäßigkeit. Manche bekamen eben mehr, als ihnen tatsächlich zugestanden war, unser Chef, so sehr er auch an totale Vertuschung geglaubt hatte, war ertappt. Man tauschte eine goldene Armbanduhr in zwei Butterpakete von je einem halben Kilo um. Die Angestellten der Großhandelsfirmen waren den Bestechungsversuchen der Kleinkrämer oft unterlegen. Unser Chef ist nicht der Ungeschickteste gewesen, und wer war schon korrekt in dieser Zeit, die Lebensmittelkriminalität ist das hervorstechendste, natürlichste Kennzeichen aller gewesen. Das Verbrechen, an Lebensmittel zu kommen, die einem nicht zugestanden sind, hat jeder begangen. Vor der Atombombe hatten sie Angst, und von den Amerikanern redeten sie mit ohnmächtiger Herablassung einerseits,

Weitere Kostenlose Bücher