Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
schon mehrmals gesehen, doch hatte sie nichts dagegen, sich das Ende ein weiteres Mal anzuschauen. Da es bis dahin noch eine Weile dauerte, drehte sie den Ton leiser und brach sich einen Riegel von der Schokolade ab, die vor ihr auf dem Tisch lag. Genug ist genug, entschied sie daraufhin und schlug die halbe Tafel wieder in das Papier ein. Sie steckte sich zwei Stücke gleichzeitig in den Mund, versuchte langsam zu kauen und spülte mit einem Schluck Rotwein nach. Sie hob den Getränkekarton an, der immer noch ziemlich schwer war. Mehr sollte sie allerdings an diesem Abend nicht trinken. Die Uhr zeigte fünf nach elf. In weniger als neun Stunden würde sie Victoria abholen, um mit ihr zum Zahnarzt zu fahren. Wenn sie dann nach Wein roch, würde das gegen sie verwendet werden.
Es klopfte an der Tür. Das musste Miriam sein. Sie war die Einzige, die anklopfte. Anita kämpfte sich aus dem Sessel und eilte in den Flur hinaus. Als sie die Wohnungstür öffnete, stand Miriam lächelnd vor ihr. Kein anderes Lächeln ließ es Anita so leicht ums Herz werden. Außer Victorias natürlich.
»Ich hab gesehen, dass noch Licht bei dir brennt«, entschuldigte sich Miriam, als wäre das notwendig. Sie trug einen kurzen Rock und eine Jeansjacke, darunter eine weiße Bluse mit Spitzenkragen.
Anita machte die Tür weit auf.
»Möchtest du ein Glas Wein?« Sie stellte sich auf die Schwelle zum Wohnzimmer und trat nur einen kleinen Schritt beiseite, um Miriam vorbeizulassen. Als ihre Schulter Miriams Brust streifte, nahm sie den wundervollen Geruch ihrer Haare und ihrer Haut unter den Kleidern wahr. Außerdem schien Miriam irgendwo gewesen zu sein, wo geraucht wurde, sie selbst war Nichtraucherin.
»Ja, ein kleines Glas vielleicht. Ich bleibe nicht lange. Ich muss morgen früh aufstehen.«
»Das muss ich auch. Ich gehe mit Victoria zum Zahnarzt.«
Miriam schaute sie verblüfft an, während sie sich setzte. Wenn Miriam erstaunt war, schnellten ihre zarten Brauen in die Höhe und zitterten ein wenig, ehe sie wieder nach unten sanken. Anita konnte einfach den Blick nicht von ihr abwenden. Miriams dunkle Augen waren mandelförmig und ihre dichten, dunkelbraunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die ihre Schläfen bedeckten und im Nacken von einer Spange zusammengehalten wurden.
»Du gehst wirklich mit ihr zum Zahnarzt? Nur ein halbes Glas, danke!«
Anita füllte Miriams Glas zu drei Vierteln und ihr eigenes bis zum Rand.
»In zwei Wochen wird sie vielleicht bei mir übernachten.«
»Das ist ja großartig!«, entgegnete Miriam strahlend. Anita wäre fast in Tränen ausgebrochen, nahm sich aber zusammen.
»Guckst du gerade Schlaflos in Seattle? «
»Ach, den hab ich schon oft genug gesehen«, sagte Anita mit einem Räuspern und schaltete den Fernseher aus.
»Ich mag solche Filme, wo sie sich am Ende kriegen«, meinte Miriam. »Wo man sofort weiß, dass sie schließlich ein Paar werden, auch wenn am Anfang alles hoffnungslos aussieht.«
Anita verkniff sich einen spitzen Kommentar, der ihr auf der Zunge lag. Miriam war zehn Jahre jünger als sie. Sie studierte Medizin und war schrecklich klug. Etwas war mit ihrem Blick. Sie schien stets an allem interessiert zu sein, was Anita sagte, so dumm ihr das selbst auch vorkam. Dennoch hatte sie etwas Mädchenhaftes an sich, das durch ihren leichten Akzent noch verstärkt wurde. Wie gern hätte Anita sich neben sie auf das Sofa gesetzt und sie einfach an sich gedrückt … Miriam hatte eine schwierige Beziehung hinter sich, das wusste sie. Mit einem Kerl, von dem sie sich schon längst hätte trennen sollen, der ihr aber so leidtat, dass sie es lange nicht übers Herz brachte. Das Ganze war mehrere Jahre her, jedenfalls bevor sie die Wohnung über ihr bezogen hatte. Danach hatte Miriam keinen Freund mehr gehabt, da war sich Anita fast sicher, obwohl sie nicht verstand, wie das möglich war.
Auf der Fensterbank entdeckte sie eine CD von Aretha Franklin und stellte Chain of fools an. Sie leerte das halbe Weinglas und spürte ein Kribbeln in ihrer Brust. Sie konnte sich nicht überwinden, Miriam zu fragen, wie sie es anstellte, wenn sie mit einem Mann schlafen wollte. Stattdessen fragte Anita ganz allgemein, ob sie nicht einen Mann in ihrem Leben vermisse.
Miriam nippte an ihrem Weinglas, stellte es ab und ließ sich tiefer in das Sofa zurücksinken, während ihre Knie sich leicht öffneten.
»Stell dir vor«, entgegnete sie, »du triffst jemand, der wie für dich geschaffen scheint, und
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