Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
Besucher und setzte sich ihr gegenüber auf die Bettkante.
»Normalerweise ruft er mich immer an, wenn es später wird, doch bisher habe ich nichts von ihm gehört. Ich befürchte das Schlimmste.«
Sie befeuchtete die trockene Oberlippe und lächelte tapfer.
»Und wissen Sie, was das Schlimmste ist?«
Der Besucher strich sich mit einer Hand durch die halblangen, frisch geschnittenen Haare. Er wusste, was jetzt kam.
»Das Schlimmste ist …«, stöhnte die Frau und riss angstvoll die Augen auf.
»Hast du heute genug zu trinken bekommen?«, warf der Besucher ein.
Diese Frage schien ihm wirklich am Herzen zu liegen. »Ich glaube, du bist durstig.«
Sie tat so, als habe sie seine Worte nicht gehört.
»Die Gestapo«, flüsterte sie mit feuchten Augen. »Ich glaube, ich werde meinen Mann niemals wiedersehen.«
Der Besucher blieb fast eine Dreiviertelstunde bei seiner Mutter. Auf ihrem Nachttisch stand ein Getränkekarton mit Orangensaft. Er schenkte ihr zwei Gläser ein, die sie in einem Zug leerte. Nachdem sie ihre große Besorgnis zum Ausdruck gebracht hatte, war das Thema für dieses Mal beendet, und sie blätterte noch ein wenig in einer Zeitschrift. Es war dieselbe Zeitschrift, die schon seit Wochen auf ihrem Tisch lag. Kein einziges Wort sagte sie mehr, als wäre sie wie gebannt von dem einen Bild, das sie unentwegt anstarrte. Nur hin und wieder, wenn sie ihm einen verstohlenen Blick zuwarf, schien ein Lächeln um ihre Mundwinkel zu spielen. Es schien, als ob sie erneut in den undurchdringlichen Dämmerzustand versinken würde, der zunehmend von ihr Besitz ergriff und alles andere abtötete. Er selbst hatte glücklicherweise daran gedacht, sich auf dem Weg eine Zeitung zu kaufen, in der er jetzt blätterte. Als es an der Tür klopfte und ein Pfleger – ein Mann mit graumelierten Haaren, womöglich ein Tamile – die Medikamente brachte, stand er rasch auf und umarmte seine Mutter.
»Ich komme bald wieder«, versprach er.
»Judas!«, zischte sie mit kohlschwarzen, schmalen Augen.
Er ließ sich seine Verblüffung nicht anmerken und musste ein Lachen unterdrücken. Sie hob ihr halbvolles Glas, und für einen Moment sah es so aus, als wollte sie ihrem Sohn den Saft ins Gesicht schütten.
»Aber Astrid!«, sagte der Pfleger mit deutlichem Akzent und nahm ihr das Glas ab.
Sie stand auf und drohte ihm mit der Faust.
»Brede ist ein schlechter Kerl!«, rief sie. »Es war nicht die Gestapo, sondern Brede, der geschossen hat.«
Der Pfleger brachte sie dazu, sich wieder hinzusetzen, doch sie fuchtelte immer noch mit den Armen.
»Zwillinge sind einer zu viel! Aber davon versteht ein Neger ja nichts.«
Der Besucher warf dem Pfleger einen bedauernden Blick zu. Der Pfleger öffnete die Medikamentendose.
»Ich komme nicht aus Afrika, Astrid«, entgegnete er mit breitem Grinsen und reichte ihr das Glas Saft.
Sie schluckte eine der Tabletten.
»Aber du bist doch Brede«, sagte sie und blinzelte ihren Besucher verwirrt an.
»Nein, Mutter, ich bin nicht Brede. Ich bin Axel.«
Er klopfte an die Bürotür der Stationskrankenschwester und trat ein. Als sie ihn erkannte, drehte sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl herum und wies mit der Hand auf das Sofa. »Setzen Sie sich doch bitte für einen Moment.«
Sie war in den Dreißigern, hochgewachsen und athletisch gebaut, mit einem Gesicht, das ihm gefiel.
»Meine Mutter wirkt zurzeit äußerst unruhig.«
Die Stationskrankenschwester nickte kurz.
»Sie hat in letzter Zeit viel vom Krieg gesprochen. Alle hier wissen ja, wer Torstein Glenne war, aber ist da eigentlich irgendwas dran mit der Gestapo?«
Axel zeigte auf die Packung mit Maryland Cookies, die auf dem Tisch stand.
»Entschuldigung, aber dürfte ich mir vielleicht einen Keks nehmen? Ich hatte heute keine Zeit, etwas zu Mittag zu essen.« Kaffee und Saft lehnte er dankend ab und amüsierte sich im Stillen über den Eifer, mit dem die Krankenschwester ihn plötzlich zu umsorgen versuchte.
»Dass die Gestapo damals hinter meinem Vater her war, ist richtig«, bestätigte er kauend. »Erst im letzten Moment ist ihm die Flucht nach Schweden gelungen. Wovon meine Mutter allerdings nichts wusste. Sie ist ihm erst vierzehn Jahre später begegnet. Sie war damals vier.«
Die Stationsschwester hatte ein wenig Mühe, ihre glatten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden.
»Solche Informationen sind sehr wertvoll für uns. Sie wird immer sehr unruhig, wenn im Fernsehen irgendein Kriegsbericht kommt. In
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