Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
Untergeschoss zurückgezogen hatte. Auch Daniels Gegenwart war zu spüren, obwohl fast zwei Monate vergangen waren, seit er sein Studium in New York begonnen hatte.
Axel Glenne war dreiundvierzig. Er hatte stets das Gefühl gehabt, unterwegs zu sein. War dies das Ziel seiner Reise gewesen, eine Terrasse mit Blick über den Fjord und die fernen Hügel auf der anderen Seite? Die spürbare Nähe von Menschen, die nach und nach eintrudelten und nach ihm riefen, und wenn er antwortete, würden sie ihn hier draußen finden, und er konnte am Klang ihrer Stimmen hören, dass auch sie sich über seine Gegenwart freuten. Er würde Marlen bitten, ihm den Mathetest zu zeigen, und wenn sie ihn auffordert, einen Tipp abzugeben, würde er sagen: »Tja, ich vermute, du hast mehr als die Hälfte richtig«, worauf sie nickt, die Lippen zusammenpresst und die Bekanntgabe der Note so lange wie möglich hinauszögert. Und wenn sie sich dann nicht länger beherrschen kann und ihm endlich die Note verrät, ruft er: »Was? Also das glaube ich einfach nicht.« Sie läuft zu ihrem Ranzen, um ihm den Test zu zeigen, worauf er ungläubig den Kopf schüttelt und sie fragt, wie in aller Welt sie das nur hingekriegt hat. Tom würde am Türrahmen lehnen, »Hallo Papa!«, und fragen, warum er so spät nach Hause gekommen sei, dass er ihn nicht mehr zum Training habe fahren können und er das Fahrrad habe nehmen müssen. Doch schon im nächsten Moment bittet er ihn auf sein Zimmer, um ihm einen neuen Riff vorzuspielen und mit seiner heiseren Fistelstimme »I’m gonna fight ’em off« zu singen.
Er ging ins Haus, holte ein Glas und eine Flasche Kognak. Es war ein exquisiter Tropfen, den er auf einer Auslandsreise gekauft hatte. Bis jetzt hatte er auf eine besondere Gelegenheit gewartet, sie zu öffnen, und entschied nun, dass dieser klare Herbstabend – ein Montagabend auf der Terrasse, während der Himmel immer noch hoch über dem Fjord stand – genau der richtige Moment war. Die Flasche schien das Abendlicht in sich zu sammeln. Er beobachtete die Boote und einige Segelschiffe auf dem Fjord und ein Containerschiff, das den Hafen ansteuerte. In einer Bucht auf der anderen Seite lag die Psychiatrische Klinik. Vor zehn, zwölf Jahren hatte er dort gearbeitet, um sich zum Spezialisten ausbilden zu lassen. Ein paar Jahre zuvor war er schon einmal dort zu Besuch gewesen. Durch einen Zufall hatte er erfahren, dass Brede dort eingeliefert worden war. Das war unmittelbar nach dem 17. Mai gewesen, daran erinnerte er sich, denn das Gebäude war zu Ehren des Nationalfeiertags immer noch festlich geschmückt. Zwei Tage später sollte der Vater begraben werden, und eigentlich hatte er seinen Bruder überreden wollen, an der Beerdigung teilzunehmen. Dem Krankenpfleger fiel vor Verwunderung die Kinnlade herunter.
»Sie sind Bredes Bruder?« Doch als er wenige Minuten später wieder auftauchte, sagte er nur: »Tut mir leid, aber er will keinen Besuch.«
Axel öffnete die Flasche und füllte ein großes, tulpenförmiges Glas. Scharfer Karamellgeruch mischte sich mit dem zarten Duft von Bies Rosengarten. Er hatte Bie niemals erzählt, dass er versucht hatte, vor der Beerdigung seines Vaters mit Brede in Kontakt zu treten. Brede gehörte einer Welt an, über die er mit Bie nicht reden konnte. Seit über zwanzig Jahren waren sie nun verheiratet, und nach wie vor sagte sie ihm, dass sie ihn liebte. Das machte ihn stets verlegen. Es fiel ihm nicht schwer, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, doch hatte er nie geglaubt, dass sie es ernst meinte. Bie bewunderte ihn. Sie bewunderte alle, die sie für stark hielt. Aber ihre Bewunderung schlug in Verachtung um, wenn sie merkte, dass sie sich geirrt hatte. Dann hatte sie das Gefühl, betrogen worden zu sein. Ihr »Ich liebe dich« entsprang der Gewissheit, dass er sie niemals auf diese Weise enttäuschen würde.
Er hob das Glas und ließ das Abendlicht aus ihm herausfließen. Als er es gerade an die Lippen setzen wollte, klingelte sein Handy. Auf dem Display tauchte der Name eines Kollegen auf, und Axel wusste sofort, worum es ging, denn dieser Kollege organisierte den Bereitschaftsdienst. Er musste über seine spontane Idee lächeln: das Glas in einem Zug zu leeren und damit nicht in der Lage zu sein, die Vertretung für den kranken Kollegen zu übernehmen.
Stattdessen stellte er das Glas ab, bevor er sich meldete.
3
A nita Elvestrand wechselte den Fernsehkanal. Den Film, der gezeigt wurde, hatte sie zwar
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