Die Ballade der Lila K
damit sie aufstand, sich ein wenig bewegte.
Sie nahm in erschreckendem Ausmaß zu. Im November ’ 98 wog sie 96 Kilo, einen Zentner mehr als zu Beginn ihrer Haft drei Jahre zuvor. Allem Anschein nach hat man nichts unternommen, um dem entgegenzuwirken. Dafür hätten sie die Behandlung abbrechen müssen, und das wollte niemand riskieren.
Die Herzbeschwerden setzten ’ 99 ein – Arrhythmie und Bluthochdruck. Man hat ihr Rythmodiol und Cardiolan verabreicht. Sie nahm weiterhin zu. Die Akte verzeichnet mehrere Infarkte, im Dezember 2099 , Mai 2100 , Januar 2101 . Einen leichten Schlaganfall im Januar 2102 , dessen Folgen nicht eindeutig festgestellt werden konnten, aufgrund des bereits im Vorfeld zerrütteten Gesundheitszustands der Patientin.
Meine Mutter starb am 22 . März 2102 , im Schlaf. Die am 23 . erfolgte Autopsie ließ auf Herzstillstand schließen. Im Bericht des Gerichtsmediziners ist alles genauestens aufgeführt: Herz 376 Gramm, rechte Lunge (leichtes Ödem) 465 Gramm, linke Lunge (leichtes Ödem) 420 Gramm, Leber 1890 Gramm, Milz 190 Gramm, Nieren jeweils 350 Gramm, Gehirn 1440 Gramm. Merkwürdig, dass sie sich so sehr für das Gewicht ihrer Organe interessierten. Als meine Mutter noch lebte, haben sie nie danach gefragt, ob ihr schwer ums Herz war.
Das letzte Dokument in der Akte meiner Mutter ist ihre Bestattungsurkunde, am 2 4 . März 2102 auf dem Friedhof der Strafvollzugsanstalt von Chauvigny: Allee 12 , Nummer 6820 , zwischen den Merkpfählen 57 und 58 . Sie war fast dreiunddreißig Jahre alt und wog 124 , 6 Kilo. Sie hatte sechs Jahre, drei Monate und neun Tage Haft abgesessen.
Während all dieser Jahre hatte sie kein einziges Wort gesagt, nicht einmal meinen Namen. Kein einziges Mal hat sie ihn ausgesprochen. Kein einziges Mal hat sie nach mir gefragt. Wusste sie überhaupt noch, dass sie eine Tochter hatte?
***
Als ich aus dem Wandschrank trat, konnte ich mich kaum auf den Beinen halten. Ich schleppte mich in die Küche, machte mir eine Dose auf – die letzte – und aß sie im Stehen, mit den Fingern, mit dem Rücken zur Kamera. Danach bin ich unter die Dusche gegangen. Ich habe lange geduscht, aber so lässt sich die Traurigkeit nicht vertreiben.
Während ich mich anzog, kam Pascha angelaufen und schmiegte sich an meine Beine. Mein lieber Kater … Ich ging vor ihm in die Hocke. Mein Lieber, hör mir zu. Ich dachte mir, einen Versuch ist es wert, wenn ich ihm dabei in die Augen sehe, wird er mich vielleicht verstehen. Ich muss jetzt deine Rückkehr melden gehen. Aber ich muss auch die Straßenkatze und die Kleinen melden. Ich habe wirklich keine Wahl. Und sie werden sie holen kommen, sobald sie Bescheid wissen. Verstehst du? Er zeigte keine Reaktion. Ach, Pascha, wenn du wüsstest, wie traurig ich bin! Ein unmerkliches Beben der Schnauze, wenn überhaupt. Ich seufzte: Bis nachher, Pascha. Bevor ich ging, öffnete ich die Glastür zum Balkon.
Beim Gesundheitsamt wurde meine Meldung zu Protokoll genommen. Man sagte mir, die Straßenkatze und die Kätzchen würden am frühen Abend abgeholt. Ich traute mich nicht zu fragen, was dann mit ihnen passieren würde.
Anschließend bin ich spazieren gegangen. Stundenlang irrte ich in den Straßen umher. Ich hatte nicht den Mut, nach Hause zu gehen. Als ich mich endlich dazu aufraffen konnte, fand ich die Wohnung verlassen vor. Von den Katzen keine Spur. Ein sanfter Wind drang durch die offene Glastür. Der Balkon war mit Haaren in allen Regenbogenfarben übersät. Ich sammelte sie alle auf und behielt sie lange in der Hand, während ich auf die Stadt blickte. Dann habe ich sie in den Verbrennungsofen geworfen. Am Ende habe ich geweint. Aus Trauer, aber auch vor Freude. Ich wusste, dass Pascha nicht zurückkommen würde.
Epilog
Seit ich die Akte zu Ende gelesen habe, sind jetzt fünf Monate vergangen, seit Ihrer Inhaftierung achtzehn Monate. Und immer noch keine Anklageerhebung. Man hört nichts über Sie.
Fernand tut, was er kann, um mich zu trösten: Wenn keine Anklage erhoben wird, ist das ein gutes Zeichen. Das heißt, sie konnten ihm nichts nachweisen. Er versichert mir, dass man Sie unter diesen Umständen nicht beliebig lange in Haft halten kann – immerhin lebten wir in einem Rechtsstaat. Er mahnt zur Geduld. Aber mir ist nicht entgangen, dass Fernand im Ministerium inzwischen auf Granit beißt.
Währenddessen halte ich die Fassade aufrecht: Ich lese, ich jogge, ich bummle durch die Stadt. Meine Farne wachsen und gedeihen. Auf
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