Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
ihm unsere Aufwartung gemacht, einen Drink genommen – jetzt können wir gehen, glaube ich, ohne jemanden zu kränken. Man soll ohnehin nie als Letzter gehen.« Sein Blick glitt über die schlaffen Gesichter der drei Toten hinweg. »Treten Sie ans Fenster, sehen Sie ein Fahrgerüst, eine Art Außenaufzug, von dem aus man wunderbar Fenster putzen könnte, obwohl wir diesen Teil auslassen werden, denke ich.« Er begleitete Belknap durch das eingeschlagene Fenster auf eine kleine Plattform hinaus, die an Seilen vom Balkon der Wohnung über ihnen hing. Wegen der häufigen Instandsetzungsarbeiten an diesen Gebäuden würde
niemand auf der Seitenstraße sieben Stockwerke unter ihnen auf sie achten.
Rinehart schnippte einen letzten Glassplitter von seinem Overall. »Die Sache liegt folgendermaßen, Mr. …«
»Belknap«, sagte er, während er auf der Plattform sicheren Halt suchte.
»Die Sache liegt folgendermaßen, Belknap. Wie alt sind Sie? Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig?«
»Sechsundzwanzig, und nennen Sie mich Todd.«
Rinehart fummelte an der Steuerung herum. Mit einem Ruck begann die Plattform, langsam und ruckelnd in die Tiefe zu sinken, als werde sie stufenweise abgelassen. »Dann sind Sie erst ein paar Jahre in unserem Laden, nehme ich an. Ich werde nächstes Jahr dreißig. Hab ein paar Jahre mehr Erfahrung. Deshalb will ich Ihnen sagen, was Sie feststellen werden. Sie werden merken, dass die meisten Ihrer Kollegen mittelmäßig sind. Das liegt einfach in der Natur jeder Organisation. Stößt man also auf jemanden, der wirklich Talent hat, ist man um das Wohl dieser Person besorgt. Auch in der Geheimdienstwelt werden Fortschritte nur von einer Handvoll Leute erzielt. Die sind die Edelsteine. Man lässt nicht zu, dass sie verloren gehen, verkratzt werden oder sonst wie Schaden leiden – nicht, wenn einem an unserem verdammten Unternehmen etwas liegt. Sich ums Geschäft zu kümmern heißt auch, sich um seine Freunde zu kümmern.« Seine graugrünen Augen starrten Belknap eindringlich an, als er fortfuhr: »Es gibt ein berühmtes Zitat des englischen Autors E. M. Foster, das Sie vielleicht kennen. Er hat gesagt, müsse er jemals zwischen Verrat an seinem Land oder seinen Freunden wählen, werde er hoffentlich den Mumm haben, sein Land zu verraten.«
»Klingt irgendwie bekannt.« Belknap hatte nur Augen für die Straße, die zum Glück leer blieb. »Ist das Ihre Philosophie?« Er spürte einen Regentropfen, allein, aber schwer, und dann noch einen.
Rinehart schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil! Daraus lernen wir nur, dass man sich bei der Wahl seiner Freunde vorsehen muss.« Wieder ein durchdringender Blick. »Weil man nie in die Lage kommen sollte, diese Wahl treffen zu müssen.«
Jetzt traten die beiden auf die schmale Straße, ließen die Plattform hinter sich zurück.
»Nehmen Sie den Eimer mit«, verlangte Rinehart. Belknap gehorchte, weil er sofort einsah, wie zweckmäßig das war. In einer Stadt, in der Arbeiter das Straßenbild prägten, waren Rineharts Overall und die Schiebermütze aus seinem Rucksack eine ausgezeichnete Tarnung; mit einem Eimer mit Fliesenlegerwerkzeug würde Belknap wie sein Kollege aussehen.
Ein weiterer schwerer Regentropfen klatschte auf Belknaps Stirn. »Jetzt bricht es gleich aus allen Wolken«, meinte er, als er ihn wegwischte.
»Bald bricht alles zusammen«, behauptete der schlaksige Agent geheimnisvoll. »Und hier weiß das in seinem Herzen jeder.«
Rinehart kannte sich in der Stadt gut aus – er wusste, welche Geschäfte zwei Straßen miteinander verbanden, welche Gassen in andere mündeten, die ihrerseits zu anderen Straßen führten.
Das pockennarbige Gesicht des Verräters mit seinem bösartig leidenschaftslosen Ausdruck stand Belknap wie ein gespenstisches Nachbild vor Augen. »Böse«, sagte er zur eigenen Überraschung schroff. Das war ein Wort, das er selten gebrauchte. Aber hier passte kein anderes. Die beiden Mündungen der Schrotflinte waren in sein Gedächtnis eingebrannt, als seien sie Lugners bösartige Augen.
Rinehart schien seine Gedanken zu erraten. »Was für ein Begriff«, sagte der größere Mann mit einem Nicken. »Heutzutage ganz unmodern, aber trotzdem unersetzlich. Irgendwie halten wir uns für zu weltklug, um über das Böse zu sprechen. Alles soll sich als Folge gesellschaftlicher oder psychologischer oder geschichtlicher Faktoren erklären lassen. Und sobald man
das tut … nun, dann verschwindet das Böse von der Bildfläche, nicht
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