Die Begnadigung
hatte die behandschuhten Hände in den Taschen ihres dicken Mantels vergraben. Draußen schneite es wieder, und in der riesigen, leeren Kirche war es nicht viel wärmer als im Freien. Er setzte sich neben sie und begrüßte sie mit einem leisen » Buongiorno « .
Ihre Mundwinkel bewegten sich gerade so weit nach oben, dass man es noch als höflich werten konnte.
» Buongiorno « , antwortete sie.
Auch Marco behielt die Hände in den Taschen, und eine ganze Weile saßen sie nebeneinander da wie zwei durchgefrorene Spaziergänger, die vor dem schlechten Wetter geflüchtet waren. Ihr Gesicht sah so traurig aus wie immer, und sie schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein, nur nicht bei dem stammelnden kanadischen Geschäftsmann, der ihre Sprache lernen wollte. Sie war distanziert und abgelenkt, und Marco hatte genug davon. Ermanno wurde mit jedem Tag lustloser. Francescas Verhalten war kaum zu ertragen. Luigi schlich irgendwo im Hintergrund herum und beobachtete ihn, doch auch er schien langsam das Interesse an dem Spiel zu verlieren.
Marco spürte, dass bald etwas geschehen würde. Man würde seine Rettungsleine zerschneiden und ihn den Wellen überlassen, und er würde versinken oder ohne Hilfe zu schwimmen beginnen. Und wenn schon. Er war jetzt seit fast einem Monat auf freiem Fuß. Er hatte genug Italienisch gelernt, um zurechtzukommen. Er konnte auch allein weiterlernen.
»Wie alt ist diese Kirche?«, fragte er, nachdem klar geworden war, dass er die Unterhaltung beginnen sollte.
Francesca zuckte zusammen, räusperte sich und nahm die Hände aus den Manteltaschen, als hätte er sie aus dem Tiefschlaf gerissen. »Mit dem Bau wurde 1236 von einigen Franziskanermönchen begonnen. Dreißig Jahre später war das Hauptschiff fertig.«
»Die Mönche hatten es ganz schön eilig.«
»Ja, es ging recht schnell. Im Laufe der Jahrhunderte kamen auf beiden Seiten Kapellen hinzu. Dann errichtete man die Sakristei und den Glockenturm. 1798 haben die Franzosen unter Napoleon die Kirche säkularisiert und ein Zollamt aus ihr gemacht. 1886 wurde sie wieder geweiht, 1928 restauriert. Als Bologna von den Alliierten bombardiert wurde, hat die Fassade schwere Schäden erlitten. Die Kirche hat stürmische Zeiten hinter sich.«
»Von außen sieht sie nicht gerade schön aus.«
»Das liegt an den Bomben.«
»Italien hatte sich wohl für die falsche Seite entschieden.«
»Bologna nicht.«
Es hatte keinen Zweck, den Krieg noch einmal zu führen. Sie schwiegen, während es schien, als würden ihre Stimmen nach oben schweben und von der Kuppel zurückgeworfen werden. Joels Mutter hatte ihn als Kind mehrmals im Jahr in die Kirche mitgenommen, aber dieser halbherzige Versuch, einen Glauben zu praktizieren, war in der Highschool recht schnell aufgegeben worden und in den letzten vierzig Jahren vollkommen in Vergessenheit geraten. Nicht einmal das Gefängnis hatte ihn bekehren können, ganz im Gegensatz zu einigen anderen Häftlingen. Für einen Mann ohne jeden Glauben war es schwer zu verstehen, wie man seinem Gott in einem derart kalten, herzlosen Museumsbau huldigen konnte.
»Es sieht so leer aus. Finden hier überhaupt Gottesdienste statt?«
»Jeden Tag wird hier eine Messe gelesen, und sonntags wird ein Hochamt gehalten. Ich habe hier geheiratet.«
»Sie sollen mir doch nichts Privates über sich erzählen. Luigi wird böse werden.«
»Italienisch, Marco, kein Englisch mehr.« Dann fragte sie auf Italienisch: »Was haben Sie heute Morgen mit Ermanno durchgenommen?«
» La famiglia. «
» La Sua famiglia, mi racconti! « Erzählen Sie mir von Ihrer Familie.
»Ein heilloses Durcheinander«, antwortete er auf Englisch.
»Sua moglie?« Ihre Frau?
»Welche? Ich habe drei.«
»Auf Italienisch.«
» Quale? Ne ho tre. «
» L’ultima. « Die letzte.
Erst jetzt fiel es ihm auf. Er war nicht Joel Backman, der drei Ex-Frauen und eine zerrüttete Familie hatte. Er war Marco Lazzeri aus Toronto, der eine Frau, vier Kinder und fünf Enkel hatte. »War ein Scherz«, sagte er auf Englisch. »Ich habe nur eine Frau.«
» Mi parli in italiano di Sua moglie? «
In sehr langsamem Italienisch beschrieb Marco seine erfundene Frau. Sie heißt Laura. Sie ist zweiundfünfzig Jahre alt. Sie lebt in Toronto. Sie arbeitet für eine kleine Firma. Sie reist nicht gern. Und so weiter.
Jeder Satz musste mindestens dreimal wiederholt werden. Jedes falsch ausgesprochene Wort rief eine Grimasse und ein schnelles » Ripeta « hervor. Marco
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