Die Begnadigung
immer es durchgesetzt werden konnte, ließ die Stadt einen Turm niederreißen. Zeit und Schwerkraft forderten ihren Tribut von den anderen, und die miserabel ausgeführten Fundamente begannen nach wenigen Jahrhunderten zu bröckeln.
Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde mit einer knappen Mehrheit beschlossen, alle Geschlechtertürme abzureißen. Nur zwei entkamen der Zerstörung – Asinelli und Garisenda, die nah beieinander an der Piazza di Porta Ravegnana stehen. Beide sind schief, und Garisenda neigt sich in einem Winkel nach Norden, der dem weitaus bekannteren und sehr viel gefälliger anzusehenden Turm von Pisa Konkurrenz macht. Die zwei Veteranen wurden im Laufe der Jahrzehnte oft sehr anschaulich beschrieben. Ein französischer Dichter verglich sie mit zwei betrunkenen Matrosen, die sich auf dem Weg nach Hause gegenseitig zu stützen versuchten. Ermannos Stadtführer betitelte sie als »Stan und Olli« der mittelalterlichen Architektur.
Der Torre degli Asinelli wurde Anfang des zwölften Jahrhunderts gebaut und ist mit 97,2 Metern doppelt so hoch wie sein Pendant. Der Garisenda fing schon kurz nach der Fertigstellung im dreizehnten Jahrhundert an, sich bedrohlich zur Seite zu neigen, und wurde kurzerhand auf die Hälfte abgetragen, um einen Einsturz zu vermeiden. Die Familie Garisenda verlor jegliches Interesse an ihrem Turm und verließ schließlich in Schimpf und Schande die Stadt.
Marco hatte die Geschichte der Geschlechtertürme in Ermannos Stadtführer gelesen. Das wusste Francesca allerdings nicht, und so redete sie wie alle guten Fremdenführer fünfzehn kalte Minuten lang über die Wahrzeichen der Stadt. Sie formulierte einen einfachen Satz, sprach ihn vor und half Marco, ihn zu wiederholen. Dann nahm sie sich zielstrebig den nächsten vor.
»Im Torre degli Asinelli sind es vierhundertachtundneunzig Stufen bis nach oben«, sagte sie.
» Andiamo « , erwiderte Marco schnell. Sie betraten den mächtigen Sockel durch eine schmale Tür und folgten einer engen Wendeltreppe etwa fünfzehn Meter nach oben, wo man einen kleinen Verkaufsstand in eine Ecke gequetscht hatte. Marco erstand zwei Eintrittskarten zu je drei Euro, dann machten sie sich auf den Weg nach oben. Der Turm war hohl, und die Treppe führte an der Außenmauer entlang.
Francesca sagte, sie sei seit mindestens zehn Jahren nicht mehr auf den Turm gestiegen, und es schien, als würde ihr das kleine Abenteuer großen Spaß machen. Sie ging die schmalen, klobigen Stufen aus Eichenholz nach oben, und Marco folgte ihr in einiger Entfernung. Von Zeit zu Zeit kam er an einem kleinen, offenen Fenster vorbei, durch das Licht und kalte Luft hereinströmten.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, rief sie ihm auf Englisch über die Schulter zu, während sich ihr Vorsprung immer mehr vergrößerte. An diesem verschneiten Februarnachmittag waren sie die Einzigen im Turm.
Marco ließ sich also Zeit, und bald schon hatte er Francesca aus den Augen verloren. Etwa auf halbem Weg nach oben blieb er an einem großen Fenster stehen, damit der Wind sein erhitztes Gesicht kühlen konnte. Er wartete, bis sich sein Atem beruhigt hatte, dann ging er weiter, langsamer noch als zuvor. Einige Minuten später blieb er wieder stehen. Sein Herz klopfte wie wild, die Lungen brannten, und er fragte sich, ob er es bis nach oben schaffen würde. Nach vierhundertachtundneunzig Stufen verließ er das kastenförmige oberste Geschoss und trat auf das Dach des Turms hinaus. Francesca rauchte eine Zigarette und sah auf ihre schöne Stadt hinunter. Auf ihrem Gesicht war nicht der kleinste Schweißtropfen zu sehen.
Der Blick vom Turm war atemberaubend. Auf den roten Ziegeldächern der Stadt lagen zwei Zentimeter Schnee. Direkt unter ihnen befand sich die hellgrüne Kuppel von San Bartolomeo, auf der sich die weiße Decke nicht halten konnte. »An einem klaren Tag kann man im Osten bis zur Adria und im Norden bis zu den Alpen sehen«, sagte sie auf Englisch. »Bologna ist einfach wunderschön, selbst im Schnee.«
»Ja, wunderschön«, stimmte er ihr außer Atem zu. Durch die Metallstäbe zwischen den gemauerten Zinnen peitschte der Wind, und es war erheblich kälter als unten auf der Straße.
»Der Turm ist das fünfthöchste Gebäude des alten Italien«, sagte sie stolz. Er war sicher, dass sie ihm die anderen vier jederzeit hätte nennen können.
»Warum ist er nicht auch abgerissen worden?«, fragte er.
»Dafür gibt es, glaube ich, zwei Gründe. Zum einen ist es eine stabile,
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