Die Begnadigung
solide gebaute Konstruktion. Die Familie Asinelli war stark und mächtig. Außerdem hat man ihn im vierzehnten Jahrhundert, als viele der anderen Türme zerstört wurden, vorübergehend als Gefängnis verwendet. Aber eigentlich weiß niemand so genau, warum ausgerechnet dieser hier übrig geblieben ist.« Knapp einhundert Meter über den Straßen von Bologna war sie eine völlig andere Person. Ihre Augen strahlten, die Stimme klang lebhaft.
»Wenn ich hier oben bin, muss ich immer daran denken, warum ich meine Stadt so liebe«, sagte sie. Ein seltenes Lächeln lag auf ihren Lippen. Es galt nicht ihm, nicht dem, was er gesagt hatte, sondern ganz allein den Dächern und der Silhouette Bolognas. Sie gingen auf die andere Seite und ließen den Blick nach Südwesten schweifen. Auf einem Hügel über der Stadt konnten sie die Umrisse des Santuario della Madonna di San Luca sehen, einer Wallfahrtskirche auf einem Hügel vor der Stadt.
»Sind Sie schon einmal dort gewesen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Wir sehen uns die Kirche an, wenn das Wetter besser ist, einverstanden?«
»Natürlich.«
»Wir müssen uns noch so viel anschauen.«
Vielleicht sollte er ja doch mit dem Unterricht bei ihr weitermachen. Er hungerte so nach Gesellschaft – vor allem nach der einer Frau –, dass er ihre Arroganz, ihre Schwermütigkeit und ihre wechselnden Launen wohl ertragen konnte. Er nahm sich vor, noch fleißiger zu lernen, um ihre Anerkennung zu bekommen.
Der Aufstieg zur Spitze des Asinelli-Turms mochte bei Francesca für gute Laune gesorgt haben, doch kaum waren sie wieder unten auf der Straße angelangt, kehrte die altbekannte Griesgrämigkeit zurück. Nach einem schnellen Espresso in einem Café in der Nähe der Türme verabschiedeten sie sich voneinander. Als sie ging, ohne flüchtige Umarmung, ohne Wangenküsschen, sogar ohne kurzen Händedruck, beschloss er, dass er ihr noch eine Woche geben würde.
Francesca war sozusagen in der Probezeit. Sie hatte sieben Tage, um nett zu werden, andernfalls würde er den Unterricht bei ihr beenden. Das Leben war zu kurz. Aber sie war schon sehr hübsch.
Der Umschlag war von seiner Sekretärin geöffnet worden, wie die übrige Post von gestern und vorgestern. Doch im ersten Umschlag steckte noch ein zweiter, der nur den Namen Neal Backman trug. Auf Vorder- und Rückseite stand in Druckschrift: PERSÖNLICH UND VERTRAULICH, NUR VON NEAL BACKMAN ZU ÖFFNEN.
»Sie sollten sich den Brief ganz oben vielleicht zuerst ansehen«, sagte die Sekretärin, als sie Neal die Post um neun Uhr morgens vorlegte. »Der Umschlag, in dem er gekommen ist, wurde vor zwei Tagen in York, Pennsylvania, abgestempelt.« Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah sich Neal den Brief an. Ein hellbrauner Umschlag mit seinem Namen und dem Vertraulichkeitsvermerk, sonst nichts. Die Schrift kam ihm bekannt vor.
Mit einem Brieföffner schnitt er den Umschlag langsam auf, dann zog er ein gefaltetes weißes Blatt Papier heraus. Der Brief war von seinem Vater. Es war ein Schock, der jedoch nicht ganz unerwartet kam.
21. Februar
Lieber Neal,
zurzeit bin ich sicher, aber ich glaube nicht, dass das lange so bleiben wird. Ich brauche deine Hilfe. Ich habe keine Adresse, kein Telefon, kein Faxgerät, und wenn ich etwas davon hätte, würde ich es vermutlich nicht benutzen. Ich brauche einen E-Mail-Zugang, der nicht zurückverfolgt werden kann. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas anstellt, aber ich bin sicher, dass du eine Lösung finden wirst. Ich habe weder einen Computer noch Geld. Du wirst wahrscheinlich beobachtet. Was immer du auch tust, du darfst keine Spuren hinterlassen. Verwisch alle Spuren! Auch meine. Vertrau niemandem. Sei vorsichtig. Lies diesen Brief und vernichte ihn dann. Schick mir so viel Geld wie möglich. Du weißt, dass ich es dir zurückzahlen werde. Benutze nie deinen richtigen Namen. Du erreichst mich unter folgender Adresse:
Signor Rudolph Viscovitch, Università degli Studi di Bologna, Via Zamboni 22, 40126 Bologna, Italien. Verwende zwei Umschläge – den ersten für Viscovitch, den zweiten für mich. Schreib ihm, dass er das Päckchen für Marco Lazzeri aufbewahren soll.
Beeil dich!
Herzliche Grüße, Marco
Neal legte den Brief auf seinen Schreibtisch, stand auf und schloss die Tür seines Büros ab. Dann setzte er sich auf ein kleines Ledersofa und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Er hatte sich bereits gedacht, dass sein Vater das Land verlassen
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