Die Begnadigung
fünfundvierzig Euro, aber Marco diskutierte nicht mit dem Fahrer. Wozu auch? Die Fahrt nach Bologna war genauso teuer wie die Hinfahrt. Einkaufen und Bahnfahren hatten seine ohnehin spärlichen Mittel bis auf einhundert Euro schrumpfen lassen.
Es war schon fast dunkel, als der Zug in den Bahnhof Bologna einfuhr. Beim Aussteigen fiel Marco zwischen all den anderen müden Reisenden nicht auf, obwohl er insgeheim vor Stolz platzte. Er hatte sich allein etwas zum Anziehen gekauft, war mit dem Zug gefahren, hatte den Wahnsinn an Bahnhof und Flughafen heil überstanden und war zweimal mit dem Taxi gefahren – und er hatte seine Post aufgegeben. Es war ein erfüllter und erfolgreicher Tag gewesen, und nichts deutete darauf hin, dass ihn jemand erkannt oder verfolgt hätte.
Und er war nicht ein einziges Mal aufgefordert worden, sich in irgendeiner Form auszuweisen.
Luigi hatte einen anderen Zug nach Mailand genommen, den Expresszug um 11.45 Uhr. Allerdings stieg er in Parma aus, wo er im Getümmel untertauchte. Für den kurzen Weg zum Treffpunkt, einem beliebten Café in der Stadt, nahm er ein Taxi. Er musste fast eine Stunde auf Whitaker warten, weil der den Zug in Mailand verpasst hatte und erst mit dem nächsten kam. Wie gewöhnlich war Whitaker schlechter Laune, die durch den Umstand, dass man sich an einem Samstag treffen musste, noch verstärkt wurde. Sie bestellten rasch, und als der Kellner weg war, kam Whitaker gleich zum Punkt. »Ich mag diese Frau nicht.«
»Francesca?«
»Ja, die Fremdenführerin. Wir haben sie bislang noch nie eingesetzt, oder?«
»Stimmt. Aber beruhigen Sie sich, sie ist in Ordnung. Sie hat keine Ahnung.«
»Wie sieht sie aus?«
»Ziemlich attraktiv.«
»Ziemlich attraktiv kann alles bedeuten, Luigi. Wie alt ist sie?«
»Das habe ich nie gefragt. Mitte vierzig, schätze ich.«
»Verheiratet?«
»Ja, hat aber keine Kinder. Sie hat einen älteren Mann, um dessen Gesundheit es ziemlich schlecht steht. Er liegt im Sterben.«
Wie immer machte sich Whitaker Notizen, während er bereits über die nächste Frage nachdachte. »Im Sterben? Woran stirbt er?«
»Ich denke, an Krebs. Ich habe nicht nachgefragt.«
»Vielleicht sollten Sie mehr Fragen stellen.«
»Vielleicht gibt es Dinge, über die sie lieber nicht redet – über ihr Alter etwa oder ihren todkranken Mann.«
»Wo haben Sie sie aufgetrieben?«
»Das war gar nicht so leicht. Sprachlehrer wachsen nicht auf den Bäumen. Ein Freund hat sie empfohlen. Ich habe mich umgehört, sie hat einen guten Ruf in der Stadt. Und sie hat Zeit. Es ist fast unmöglich, einen Lehrer zu finden, der drei Stunden am Tag für einen Schüler opfert.«
»Jeden Tag?«
»Wochentags. Sie hat zugesagt, rund einen Monat lang jeden Nachmittag zu arbeiten. Es ist Nebensaison – kann sein, dass sie ein oder zwei Aufträge die Woche zusätzlich hat, aber sie versucht, trotzdem immer zur Verfügung zu stehen. Also entspannen Sie sich, sie ist gut.«
»Was bekommt sie an Honorar?«
»Zweihundert Euro die Woche, bis zum Frühjahr, wenn wieder mehr Touristen kommen.«
Whitaker verdrehte die Augen, als müsste er das Geld von seinem eigenen Gehalt abzweigen. »Marco ist zu teuer«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Marco hat eine wunderbare Idee. Er möchte nach Australien oder Neuseeland. Jedenfalls irgendwohin, wo die Sprache kein Problem für ihn darstellt.«
»Er will einen Transfer?«
»Ja, und ich halte das für eine hervorragende Idee. Laden wir ihn woanders ab.«
»Das haben nicht wir zu entscheiden, oder, Luigi?«
»Ich schätze, nein.«
Die Salate kamen, und sie schwiegen für eine Weile.
»Trotzdem mag ich diese Frau nicht«, sagte Whitaker schließlich. »Suchen Sie jemand anders.«
»Es gibt niemand anders. Worüber machen Sie sich Sorgen?«
»Sie könnte die Dinge komplizieren. Bei Frauen besteht immer die Gefahr, dass es zu einer Affäre kommt, und Marco war als notorischer Schürzenjäger bekannt.«
»Ich habe sie gewarnt. Außerdem braucht sie das Geld.«
»Ist sie pleite?«
»Ich habe den Eindruck, dass sie ziemlich knapp bei Kasse ist. Es ist Nebensaison, und ihr Mann arbeitet nicht.«
Whitaker zeigte den Anflug eines Lächelns, als wären das gute Nachrichten für ihn. Er stopfte sich ein großes Stück Tomate in den Mund und kaute, während er in der Trattoria herumspähte, um zu sehen, ob sie jemand bei ihrer gedämpften Unterhaltung auf Englisch belauschte.
»Reden wir über E-Mails«, sagte er, nachdem er endlich
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