Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Poesie geworden sind, funkelnde Sprachstücke von oft berückender Schönheit und Kraft. Sie sind aber auch Selbstrechtfertigung einer ganz und gar fürs Schreiben eingesetzten Existenz: »Warum genügt es mir nicht, einfach mit- und dahinzuleben, die Stadt zu erleben? Es ist wie in der Liebe. Wenn das Herz übergeht vor Zärtlichkeit, innerer Huldigung, Ãberschwang ⦠dann möchte man resümieren können; man möchte das Erlebte wiederaufleben lassen können; man kann es fast selber nicht glauben; aus Ungläubigkeit unter anderem denkt man zurück und möchte alles noch einmal vor sich hin beten, es ist sonst wie nicht gehabt«, erklärt er sich im Journal der 1980er seinen Schreibzwang und erkennt: »Und dabei merkt man, daà sozusagen nichts zu halten ist, das Leben ist kein Besitz. Leerausgehen in der Fülle.«
Doch während man Nizon liest, verhält es sich gerade umgekehrt. Statt leer auszugehen, erfährt man in seinen Büchern Wirklichkeit. Dadurch, daà er in ihnen die Welt benennt und für ihren Reichtum ein sprachliches BewuÃtsein schafft. Seine Bücher befeuern eine besondere Art von Aufmerksamkeit, geben einem die dünne Haut der jungen Jahre zurück und schenken einem durch ihre Sprachintensität wieder vor Verwunderung leuchtende Augen. Daà so etwas möglich ist, gehört zu den Wundern des Lesens â und Nizons Schreiben.
Martin Simons
Die Belagerung der Welt
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Die Wirklichkeit, die ich meine, ist nicht ein für alle mal abzuziehen oder abzufüllen und in Tüte, Schachtel oder Wort mitzunehmen. Sie ereignet sich. Sie will verdeutlichend mitgemacht werden und eigentlich mehr als das: Sie muà hergestellt werden, zum Beispiel im Medium der Sprache. Deshalb schreibe ich. Die in der Sprache zustandekommende Wirklichkeit ist die einzige, die ich kenne und anerkenne. Sie gibt mir das Gefühl, vorhanden und einigermaÃen in Ãbereinstimmung zu sein mit dem, was sich insgeheim wirklich tut. Mein Leben, von dem ich annehme, es sei einmal und einmalig, läuft auf diese Weise weniger Gefahr, in blind übernommenen Konventions- oder in irgendwelchen Idealkanälen dahinzufahren oder auf Lebzeit in Untermiete eingelagert zu bleiben. Es setzt sich nicht auf Dienstwegen mit der treibenden Instanz auseinander, sondern empfängt seine Impulse direkt.
Ich schreibe aus einem Lebendigkeits- und Wirklichkeitsanspruch heraus. GroÃe Themen habe ich nicht an den Mann zu bringen oder in die Welt zu setzen. Ich möchte keinerlei Einfluà nehmen mit Geschriebenem, nicht belehren, nicht bekehren, nicht moralisieren, nicht aufrichten, nicht aufbauen, nicht verändern. Herstellen und vielleicht mich bekennen.
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Gestern Frisch getroffen: Hatte den Eindruck, daà er zu meinem Begräbnis gekommen war. Er hatte sich einige Tage in Zürich über den »Fall Nizon« informieren lassen, hatte festgestellt, daà ich es fertiggebracht habe, sehr viel MiÃgunst, Hohn, Unwillen auf mich zu ziehen. Ich fragte ihn, wie er die jetzige Situation des Canto beurteile. Er meinte,
das Buch sei nicht untergegangen, nicht begraben, aber sehr mit Fragezeichen belastet, mit Infragestellung. Mit dieser schweren Belastung sei es vorläufig noch »da«. Warum die GroÃen unter den Berufskritikern nicht an das Buch herangingen, fragte ich, was seine Meinung sei. Lustlosigkeit, wenig Anreiz, kein Interesse vielleicht, meinte er. Aber das bleibt merkwürdig. Und bisher unerklärt. Keiner der das wirklich Experimentelle darin erkennt, keiner der auf die Sprache, die Sprachexpedition eingeht. Aufs Instrumentarium. Ob sie's nicht sehen? Martin Walser meinte, es sei in dem Buch ein Widerspruch zwischen dem Aufbau, der »spinnend«, unter Verzicht auf Anfang und Ende und jeden Ideal-Zusammenhang und jede Ideal-Rundung, ohne Handlung, ohne solche »Kunst« auskomme und eine äuÃerste Position der Innovation bezeichne und der Sprache, die gefräÃig, schwelgerisch, reich, ungewohnt verspielt sei. Hätte ich ein klar erkennbares Rezept als Aufhänger mitbeigegeben, dann würde es das Buch leichter gehabt haben.
Frisch: An manchen Stellen sei für die meisten Leser einfach kein »Problem« zu erkennen, es bleibe bei einem Privatproblem â überall da, wo kein »Stoff«, keine Anleitung, kein Unterbau mitgeliefert werde. Da, wo das Material für die Problematik,
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