Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Einleitung
Das Leben ist zu gewinnen
oder zu verlieren
I
Paul Nizon hat seit 1995 fünf Bücher aus tagebuchähnlichen Aufzeichnungen veröffentlicht. Jeder Band verhandelt ein Jahrzehnt, von den 1960er bis zu den 2000er Jahren. Die fünf Journale umfassen zusammen etwa 1400 Druckseiten und sind das Destillat aus einem zehnmal so umfangreichen Ausgangsmaterial. Für das vorliegende Buch habe ich diese bereits publizieren Texte in Abstimmung mit Paul Nizon ein weiteres Mal verdichtet und redigiert.
Dafür gibt es Gründe. In ihrer bisherigen Form waren Nizons Journale schwerpunktmäÃig Werkstattberichte, Ergebnis täglicher oft wie blindlings ausgeführter Schreibübung, die man sich wie die Fingerübung eines Pianisten vorstellen kann. Diese Aufzeichnungen ermöglichten umfassende und unvergleichliche Einblicke in die Arbeit eines Schriftstellers, die Bedingungen seiner Produktion. Doch die schiere Masse des Materials, die Verästelung der wiederkehrenden Motive und Konflikte verstellte notgedrungen den Zugang zu der dahinterstehenden Existenz.
Die vorliegende Textauswahl konzentriert sich auf das Drama eines komplexen Charakters, der sich in die ihm eigenen Widersprüche mit den Jahren immer auswegloser verstrickt. Dieser fortlaufende Frontbericht hat anders als das klassische Drama keine fünf Akte, erstreckt sich dafür aber über fünf Jahrzehnte. Unwillkürlich wird damit die Zeit (in jungen Jahren als Hoffnungshorizont, dann zunehmend als un
bestechliches RichtmaÃ) zum eigentlichen Helden. Der Leser bekommt so eine Ahnung von der Vergeblichkeit, aber eben auch von der GroÃartigkeit eines radikal für die Literatur gelebten Lebens.
Die biographischen Fakten dieses Lebens lassen sich aber bestenfalls mit Mühe aus den (notwendig bruchstückhaften) Journaleinträgen rekonstruieren. Deshalb erscheint mir eine Einführung in Leben und Werk Paul Nizons hilfreich.
II
Paul Nizon wird 1929 in Bern als Sohn eines russischen Emigranten und einer Schweizerin geboren. Seit 1976 lebt er in Paris, wo ihn die späte, aber enthusiastische Anerkennung der Franzosen nach eigenem Bekunden vor dem Verzweifeln rettet. In Frankreich erkennt man sogleich das Unerhörte seiner »littérature pure«, ernennt ihn zum »Chevalier des Arts et des Lettres« und ehrt ihn bereits zu Lebzeiten mit einem Eintrag im exklusiven Larousse , dem maÃgebenden Lexikon. Man stört sich nicht daran, daà er keine Storys oder Inhalte in handelsgängiger Verpackung zu verabreichen hat. Sondern mit Sprache â nahe am GröÃenwahn â nichts Geringeres anstrebt, als »das Leben zu geben«.
Bei seinen Anfängen in Deutschland und erst recht in der Schweiz stöÃt man sich an solchem Anspruch. Als Nizon 1959 mit seinem Erstling Die gleitenden Plätze auftritt, findet er zwar sogleich die Anerkennung von Kollegen, von Ingeborg Bachmann, Friedrich Dürrenmatt und besonders Max Frisch. Der Verleger Siegfried Unseld nimmt ihn für Suhrkamp unter Vertrag, nachdem er nichts weiter als eine Leseprobe auf Tonband abgehört hat, und prophezeit einen riesigen Erfolg. Doch anstatt Weltruhm erntet Nizon vor
allem Unverständnis. In den politisch aufgeladenen 1960ern und 1970ern erwartet man von einem Schriftsteller in erster Linie eine engagierte Literatur im Dienste des gesellschaftlichen Fortschritts. Nizon aber hat, so bekennt er selbst, »keine Meinung, kein Programm, kein Engagement, keine Geschichte, keine Fabel, keinen Faden. Nur diese Schreibpassion in den Fingern.«
Paul Nizon ist Individualist, und sein Leitspruch lautet »Das Leben ist zu gewinnen oder zu verlieren« â von niemand anderem als einem selbst. Sein hochfahrender Anspruch ans Leben, sein manischer Freiheitsdrang, seine unverstellte Lebensgier, aber auch seine Verachtung für das Mittelmaà provozieren Kritiker und Kollegen.
Paul Nizon ist ein Berufener. Er erklärt sich mit sechzehn selbst zum Dichter, ohne bis dahin überhaupt nur eine Zeile geschrieben zu haben. Er ist ein überempfindsamer Tagträumer, aber auch ein stolzer junger Mann, der aus Angst, wegen seiner Sensibilität für schwach gehalten zu werden, boxt und den Mädchen nachstellt. Noch verläuft sein Leben in normalen Bahnen. Er studiert in den 1950ern Kunstgeschichte in Bern und München, verliebt sich in eine Pfarrhaustochter, die er â es ist eine
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