Die Berechnung der Zukunft: Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen - Der New York Times Bestseller (German Edition)
Die vorhandenen Informationen konnten nicht gedeutet werden, und der Angriff stellte eine »unbekannte Unbekannte« dar.
Auch im Hinblick auf die jüngste globale Finanzkrise versagten die Prognosen vollkommen. Unser naiver Glaube an Modelle und unsere Unfähigkeit einzusehen, wie sehr sie von unserer Wahl der Voraussetzungen abhängen, führte zu katastrophalen Ergebnissen. Ganz nebenbei fand ich heraus, dass wir trotz größter Anstrengungen Rezessionen immer nur wenige Monate im Voraus erkennen. In Sachen Inflationskontrolle haben die USA beträchtliche Fortschritte gemacht, im Übrigen ähnelt die Wirtschaftspolitik eher einem Blindflug.
Vor der US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 sagten die Politologen einen Sieg Al Gores mit einer überwältigenden 11-Prozent-Mehrheit voraus. 38 Stattdessen siegte George W. Bush. Fehleinschätzungen dieser Art sind bei politischen Prognosen recht häufig. Eine Langzeitstudie von Philip E. Tetlock von der University of Pennsylvania kam zu dem Ergebnis, dass politische Entwicklungen, die die Politologen mit absoluter Gewissheit ausschlossen, gleichwohl in 15 Prozent der Fälle eintraten. (Die Politologen schneiden wahrscheinlich trotzdem noch besser ab als die TV-Experten.)
In jüngster Zeit hat man, wie bereits in den 1970er-Jahren, wieder versucht, Erdbeben vorherzusagen, und zwar mithilfe fortgeschrittener mathematischer Modelle und computergestützter Techniken. Aber diese Vorhersagen sahen Erdbeben voraus, die sich nie ereigneten, und versagten im Hinblick auf jene Beben, die tatsächlich eintrafen. Die Kernkraftwerke in Fukushima waren konstruiert worden, um Erdbeben bis zu einer Stärke von 8,6 auf der Richterskala widerstehen zu können, weil Seismologen höhere Werte ausgeschlossen hatten. Dann wurde Japan im März 2011 von dem fürchterlichen Erdbeben der Magnitude 9,1 heimgesucht.
Ganze wissenschaftliche Disziplinen versagen in ihren Prognosen, oft mit großen Folgekosten für die Gesellschaft. Ein Beispiel ist die biomedizinische Forschung. 2005 veröffentlichte der in Athen aufgewachsene Medizinanalytiker John P. A. Ioannidis eine umstrittene Studie zu dem Thema »Warum die meisten veröffentlichten Forschungsergebnisse falsch sind«. 39 Die Studie befasst sich mit positiven Forschungsergebnissen in Fachzeitschriften: Beschrieben werden zutreffende medizinische Hypothesen, die anhand von Laborresultaten belegt wurden. Die Schlussfolgerung der Studie lautet, dass die meisten Ergebnisse außerhalb des Labors versagten. Laboratorien von Bayer haben Ioannidis’ Hypothese kürzlich bestätigt. Circa zwei Drittel der in medizinischen Fachzeitschriften beschriebenen positiven Ergebnisse hatten sich in den Laboratorien von Bayer nicht wiederholen lassen. 40
Big Data, die großen Datenmengen, werden irgendwann einmal Fortschritt bringen. Wann und ob es in der Zwischenzeit zu Rückschritten kommt, hängt ganz allein von uns ab.
Warum uns die Zukunft schockiert
In biologischer Hinsicht unterscheiden wir uns nicht sonderlich von unseren Vorfahren. Aber einige Steinzeitqualitäten gereichen uns im Informationszeitalter zum Nachteil.
Menschen können sich nur schlecht verteidigen. Wir sind nicht schnell und auch nicht sonderlich stark. Wir haben keine Klauen oder Fangzähne und besitzen auch keinen Panzer. Wir können kein Gift spucken und uns nicht tarnen. Und wir können nicht fliegen. Stattdessen sind wir zum Überleben auf unseren Grips angewiesen. Wir denken schnell. Wir können Muster erkennen, ohne langes Zögern Gelegenheiten ergreifen und auf Bedrohungen reagieren.
»Die Notwendigkeit, Muster erkennen zu müssen, unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen«, erläuterte mir Tomaso Poggio, ein Neurologe am MIT, der sich damit beschäftigt, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. »Man muss verallgemeinern können, wenn man in schwierigen Situationen Gegenstände erkennen will. Ein Neugeborenes kann ein Gesicht als solches erkennen, das ist evolutionär und muss nicht individuell erlernt werden.«
Poggio sagt, dass uns dieser evolutionäre Instinkt gelegentlich dazu veranlasst, Muster zu erkennen, wo keine sind. »Das tun die Leute ständig«, sagt Poggio, »sie finden Muster im zufälligen Rauschen.«
Das menschliche Gehirn ist bemerkenswert. Es kann etwa drei Terabytes an Information speichern. 41 Das ist jedoch nur ein Millionstel der Informationen, die laut IBM heute täglich auf der Welt produziert werden. Wir müssen also sehr gut auswählen,
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