Die Bernsteinhandlerin
Ehre und man als Ritter nur die Wahl hatte, sich selbst von der Kugel einer unritterlichen Hakenbüchse oder dem Bolzen einer Armbrust den Brustharnisch durchschlagen zu lassen oder solche unehrenhaften Waffen mit eigener Hand einzusetzen, wenn man auf dem Schlachtfeld überleben wollte.
Das Geld dominierte alles, so hatte Erich immer wieder feststellen müssen, und durch das Geld herrschten diejenigen, durch deren Hände es vornehmlich ging: Kaufleute. Aber Reichtum war etwas, das Erich völlig gleichgültig war. Er wollte nur so viel, wie er zum Leben brauchte, und das bekam er hier in Lübeck.
Seine Gedanken waren gerade weit abgeschweift, als sein Kommandant ihn daran erinnerte, auch wirklich alles mitzuschreiben, was von Belang war.
»Liegt nicht längst genug an belastendem Zeugnis vor?«, fragte Erich. »Man wird sie nur einmal hinrichten können. Also reicht im Grunde ein einziger Fall aus, der gut dokumentiert werden muss. Den Rest mag ein höherer Richter aburteilen.«
»Ihr redet leichtfertig, Erich von Belden«, erwiderte Hagen van Dorpen. »Im Ãbrigen sind das Gedanken, die nicht uns zustehen, sondern dem Gericht, das das Urteil fällen wird.«
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Als das Verhör endete, lag ein gekrümmtes Bündel menschlichen Elends auf dem kalten Steinboden des Kerkers, der nur unzureichend von Stroh bedeckt wurde. Das leinengraue zerrissene Hemd, das man Mina Lodarsen gelassen hatte, starrte vor Dreck und Blut. Sie war kaum noch als die Frau zu erkennen, die man am Morgen festgenommen hatte.
Hagen van Dorpen und Erich von Belden verlieÃen den Kerkertrakt, begleitet vom Henker. Als sie ins Freie traten, blendete Erich die Sonne, und ein Schwall von geifernden Stimmen schlug ihm entgegen â manche von ihnen schrill und verzerrt.
»Wo ist sie, die Giftmischerin?«
»Wir wollen sie sehen!«
»In die Hölle mit der Hexe!«
»Verbrennt sie!«
»Leiden soll sie â wie ihre Opfer!«
»Auge um Auge, Zahn um Zahn!«
Etwa fünfzig Personen hatten sich drauÃen versammelt. Es waren vor allem Frauen, aber auch einige Männer, und sogar Halbwüchsige und Kinder waren unter ihnen. Ihre Gesichter glichen hasserfüllten Fratzen. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von der verhafteten Giftmischerin herumgesprochen.
»Wir werden schnell handeln müssen, wenn wir ihre Mitwisser und Komplizen noch erwischen wollen!«, gab Hagen angesichts der Menschenmeute zu bedenken.
Die Menge drängte zur Tür und wollte sich offenbar Zugang verschaffen. Erich von Belden zog sein Rapier. »Schert euch fort!«, rief er mit dröhnender Stimme, und auf einmal war tatsächlich Ruhe. »Geht eurer Arbeit nach, oder was immer ihr zu tun haben mögt! Der Giftmischerin wird Gerechtigkeit widerfahren â und überdies vergesst nicht, dass der Herr sagt: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein! Und so frage ich, wer denn wohl unter euch ohne Sünde sein mag?«
Die Menschen starrten Erich mit groÃen Augen an, in denen sich nichts anderes als blankes Unverständnis zeigte.
Hagen van Dorpen legte Erich eine Hand auf die Schulter. »Steckt Eure Waffe wieder an ihren Ort, Erich!«
Erich glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. »Wollt Ihr Euch dem Lynchmob ergeben? Das kann unmöglich Euer Ernst sein!«
»Ihr seid neu hier in Lübeck. Darum halte ich Euch zugute, dass Ihr die Verhältnisse nicht kennt â¦Â« Er wandte sich an den Henker, der etwas irritiert an der Tür stand. »Nicht mehr als zehn Personen auf einmal, hast du mich verstanden, Henker?«
»Ja, Herr!«
»Und sei nicht zu gierig mit deinem Eintrittsgeld! Sonst lyncht diese Meute am Ende erst dich und dann die Giftmischerin.«
»Jawohl.«
Hagen van Dorpen zog den verblüfften Erich mit sich. Die Menge machte bereitwillig Platz, schon um sich nicht an der scharfen Doppelschneide des Rapiers zu verletzen, das Erich schlieÃlich wieder in die Scheide steckte.
»Was geht hier vor sich?«, fragte der Ritter schlieÃlich, wobei er sich kaum die Mühe machte, seinen Zorn zu verbergen.
»Ich will es Euch erklären, Erich«, sagte Hagen van Dorpen. »Der Henker gestattet den Leuten, die Wundmale anzuschauen, die er der Giftmischerin beigebracht hat. Dafür nimmt er einen Obolus von jedem Schaulustigen. Die Leute sind ganz wild darauf, sich das anzusehen â
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