Die Beschenkte
einen Grenzlord, der Holz aus den südlichen Wäldern der Middluns gekauft hatte. Den abgemachten Preis hatte er bezahlt, doch dann hatte er mehr als die vereinbarte Zahl an Bäumen geschlagen. Randa wollte Geld für das zusätzliche Holz, und er wollte, dass der Lord bestraft wurde, weil er die Abmachung ohne königliche Erlaubnis geändert hatte.
»Ich muss euch noch warnen«, sagte Oll, als sie ihr Lager räumten. »Dieser Lord hat eine Tochter, die mit Gedankenlesen beschenkt ist.«
»Warum die Warnung?«, fragte Katsa. »Ist sie nicht an Thigpens Hof?«
»König Thigpen hat sie zu ihrem Vater nach Hause geschickt.«
Katsa riss heftig an den Riemen, die ihre Tasche am Sattel hielten.
»Versuchst du das Pferd umzuwerfen, Katsa«, sagte Giddon, »oder willst du nur die Satteltasche zerreißen?«
Katsa machte ein missmutiges Gesicht. »Niemand hat mir gesagt, dass wir einer Gedankenleserin begegnen werden.«
»Ich sage es Ihnen jetzt, My Lady«, erklärte Oll, »und es gibt keinen Grund zur Sorge. Sie ist ein Kind. Das meiste, was sie plappert, ist Unsinn.«
»Und was stimmt nicht mit ihr?«
»Mit ihr stimmt nicht, dass sie meistens Unsinn plappert. Oder unnützes, unwichtiges Zeug, und sie platzt mit allem heraus, was sie sieht. Sie ist nicht zu bremsen. Sie hat Thigpen nervös gemacht, deshalb hat er sie nach Hause geschickt, My Lady, und ihrem Vater befohlen, sie zurückzusenden, wenn sie zu etwas nütze ist.«
In Estill wie in den meisten anderen Königreichen wurden Beschenkte laut Gesetz dem König zu seiner Verfügung überlassen. Jedes Kind, dessen Augen Wochen, Monate, selten Jahre nach seiner Geburt zwei unterschiedliche Farben angenommen hatten, wurde an den Hof seines Königs gebracht und in den Kinderzimmern des Königs aufgezogen. Wenn seine Gabe sich als nützlich für den König erwies, blieb das Kind in seinen Diensten. Wenn nicht, wurde es nach Hause zurückgeschickt. Natürlich mit den Entschuldigungen des Hofs, weil es schwierig für eine Familie war, einen Beschenkten einzusetzen, vor allem einen mit einer nutzlosen Gabe wie die, auf Bäume zu klettern, eine unmöglich lange Zeit die Luft anzuhalten oder rückwärts zu reden. In einer Bauernfamilie konnte es dem Kind noch gutgehen, da arbeitete es auf den Feldern und niemand sah es oder wusste davon. Aber wenn ein König einen Beschenkten nach Hause in die Familie eines Gastwirts schickte oder in die eines Ladenbesitzers in einer Stadt mit mehr als einem solchen Unternehmen, dann litt zwangsläufig das Geschäft. Es machte keinen Unterschied, welche Gabe das Kind hatte. Wenn irgend möglich, mieden die Leute jeden Ort, an dem sie einen Menschen mit verschiedenfarbigen Augen treffen konnten.
»Thigpen ist dumm, wenn er eine Gedankenleserin nicht bei sich behält«, sagte Giddon, »nur weil sie ihm noch nicht nützlich ist. Gedankenleser sind zu gefährlich. Was, wenn das Mädchen unter den Einfluss eines anderen gerät?«
Giddon hatte natürlich Recht. Was Gedankenleser auch sonst noch sein mochten, fast immer waren sie wertvolle Werkzeuge in der Hand eines Königs. Doch Katsa konnte nicht verstehen, wie jemand sie in der Nähe haben wollte. Randas Koch war ein Beschenkter, ebenso sein Pferdehändler, sein Weinbauer und einer seiner Hoftänzer. Er hatte einen Jongleur, der mit unzähligen Gegenständen jonglieren konnte, ohne sie fallen zu lassen. Er hatte mehrere Soldaten, wenn auch keine Rivalen für Katsa, die mit dem Schwertkampf beschenkt waren. Er hatte einen Mann, der die Qualität der Ernte im kommenden Jahr voraussah. Er hatte eine Beschenkte, die wunderbar mit Zahlen umgehen konnte und als einzige Frau in allen sieben Königreichen im Zahlhaus eines Königs arbeitete.
Der König hatte auch einen Mann, der die Stimmung jeder Person kannte, die er berührte. Er war der einzige Beschenkte an Randas Hof, der Katsa abstieß, der einzige außer Randa selbst, den sie mied.
»Dass Thigpen sich töricht verhält, kann kaum besonders überraschen, My Lord«, sagte Oll.
»Welche Art Gedankenleserin ist sie?«, fragte Katsa.
»Ich bin mir nicht sicher, My Lady. Sie ist so ungeformt. Und Sie wissen, wie die Gedankenleser sind, ihre Gabe ändert sich dauernd und lässt sich nur schwer festlegen. Sie sind erwachsen, bevor sie in ihre ganze Macht hineingewachsen sind. Aber es scheint, dass dieses Kind Wünsche lesen kann. Es weiß, was andere Leute gern hätten.«
»Dann wird die Kleine auch wissen, dass ich sie bewusstlos schlagen
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