Die Beschenkte
Freunde gehabt.
Aber vielleicht war in Lienid einfach alles anders.
»Ich habe gehört, die Schlösser in Lienid lägen auf so hohen Berggipfeln, dass die Leute mit Seilen zu ihnen hochgezogen werden müssen«, sagte Katsa.
Bo grinste. »Solche Seile gibt es nur in der Stadt meines Vaters.« Er schenkte sich Wasser nach und wandte sich wieder dem Essen auf seinem Teller zu.
»Und? Willst du mir das erklären?«
»Katsa! Kannst du nicht verstehen, dass ein Mann vielleicht hungrig ist, nachdem du ihn halb zu Tode geprügelt hast? Ich denke allmählich, dass es Teil deiner Kampfstrategie ist, mich vom Essen abzuhalten. Du willst, dass ich schwach und matt bin.«
»Für einen, der als bester Kämpfer der Lienid gilt, hast du eine zarte Konstitution!«
Er lachte und legte die Gabel weg. »Also schön. Wie soll ich das beschreiben?« Er griff wieder zu seiner Gabel und zeichnete damit erklärend ein Bild in die Luft. »Die Stadt meines Vaters liegt oben auf einem riesigen steilen Felsen, groß wie ein Berg, der aus der Ebene aufragt. Es gibt drei Wege hinauf zur Stadt. Einer besteht aus einer Straße, die seitlich in den Felsen gebaut wurde; sie windet sich langsam um ihn herum. Der zweite ist eine Treppe in einer Seite des Felsens. Sie führt im Zickzack hinauf, bis sie den Gipfel erreicht. Das ist ein guter Weg, wenn man kräftig, ausgeruht und ohne Pferd ist, allerdings werden die meisten mit der Zeit müde und bitten schließlich Fahrer oder Reiter auf der Straße, sie mitzunehmen. Meine Brüder und ich machen dort manchmal Wettrennen.«
»Wer gewinnt?«
»Wo ist dein Vertrauen in mich, dass du das fragen musst? Du würdest uns natürlich alle schlagen.«
»Dass ich gut kämpfen kann, bedeutet nicht, dass ich schnell eine Treppe hinauflaufen kann.«
»Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du jemandem erlaubst, dich in irgendwas zu schlagen.«
Katsa schnaubte. »Und der dritte Weg?«
»Der dritte Weg sind die Seile.«
»Aber wie funktionieren sie?«
Bo kratzte sich am Kopf. »Nun, das ist eigentlich recht einfach. Sie hängen von einem großen Rad, das flach auf der Seite oben auf dem Felsen liegt, am Felsen hinunter, und unten sind sie an einer Plattform befestigt. Pferde drehen das Rad, das Rad zieht die Seile und die Plattform steigt hinauf.«
»Das kommt mir schrecklich mühsam vor.«
»Fast alle benutzen die Straße. Die Seile sind nur für große Warenladungen.«
»Und die ganze Stadt liegt oben am Himmel?«
Bo brach sich ein weiteres Stück Brot ab und nickte.
»Aber warum wurde dort eine Stadt erbaut?«
Bo zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich weil es so schön ist.«
»Was meinst du damit?«
»Nun, man kann vom Rande der Stadt aus unendlich weit schauen. Über die Felder, die Berge und Hügel. Und auf einer Seite über das Meer.«
»Das Meer!«, sagte Katsa.
Das Meer ließ sie für einen Moment verstummen. Sie hatte die Seen von Nander gesehen, manche von ihnen waren so groß, dass sie kaum das gegenüberliegende Ufer erkennen konnte. Aber das Meer kannte sie nicht. So viel Wasser war für sie unvorstellbar; Wasser, das wogte und gegen die Küste krachte, wie sie es vom Meer gehört hatte. Gedankenverloren starrte sie auf die Wände von Tealiffs kleiner Kammer und versuchte es sich auszumalen.
»Man kann von der Stadt aus zwei Schlösser meiner Brüder sehen«, sagte Bo, »in den Ausläufern der Berge. Die anderen Schlösser liegen jenseits der Berge oder zu weit entfernt für das bloße Auge.«
»Wie viele Schlösser gibt es?«
»Sieben«, sagte Bo, »so wie es sieben Söhne gibt.«
»Dann gehört eins davon dir.«
»Das kleinste.«
»Macht es dir etwas aus, dass es das kleinste ist?«
Bo nahm einen Apfel aus der Obstschale auf dem Tisch. »Ich bin froh, dass es das kleinste ist, auch wenn meine Brüder mir das nicht glauben.«
Das konnte sie den Brüdern nicht übelnehmen. Noch nie hatte sie von einem Mann gehört, einschließlich ihres Cousins, der sich nicht den größten Besitz wünschte, den er haben konnte. Giddon verglich sein Gut immer mit denen seiner Nachbarn, und wenn Raffin seine Beschwerden über Thigpen auflistete, vergaß er nie, eine gewisse Uneinigkeit über die genaue Lage der Ostgrenze der Middluns zu erwähnen. Katsa hatte geglaubt, alle Männer seien so. Sie hatte gedacht, sie sei nur deshalb nicht so, weil sie kein Mann war.
»Ich habe nicht den Ehrgeiz meiner Brüder«, sagte Bo. »Ich wollte nie einen großen Besitz. Ich wollte nie ein König
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