Die beste Lage: Roman (German Edition)
Postamt, ging rechts den kleinen Fußweg hinauf und blieb auf halber Höhe verunsichert vor einer Tür stehen. Nach so vielen Jahren war ihm tatsächlich entfallen, wo genau sich das Haus seines Freundes befand. Schon tauchte aber aus einem Hauseingang eine Art Megäre auf, in Trauerkleidung und mit Strickzeug in der Hand, wie es sich gehört. »Wen sucht Ihr?«, knurrte sie Riccardo an.
»Giàcinto Cenere, den Maler.«
»Aha, den Maestro«, antwortete sie. Erneut zwei Reihen teils fauler, teils fehlender Zähne in Bewegung setzend, fuhr sie fort: »Klopft nur, klopft. Aber der schläft.«
»Um diese Zeit?« Es war sechs Uhr nachmittags. Keiner, nicht einmal der Wüstling, als den Riccardo seinen alten Kumpel in Erinnerung hatte, hätte je die Siesta, hierzulande penneca genannt, so lange ausgedehnt.
»Tja«, antwortete die Frau mit einem Achselzucken, »der iss halt ein Künstler«, und bewies damit, dass sie die Welt viel besser kannte, als ihr bescheidenes Äußeres erahnen ließ. »Jedenfalls schläft er, oder er iss nicht da.« Sie verharrte im Hauseingang und wartete, nun ebenfalls unsicher, welche der beiden Hypothesen sich nach dem Geläute als richtig erweisen würde. Aber was heißt hier Geläute? So kräftig Fusco auch auf den Knopf drückte, es kam kein vernehmbarer Ton heraus. Bestenfalls hörte man ein schwaches Echo in der Ferne, so als hätte jemand den Raum zwischen der Glockenwand und dem Schwengel mit Watte ausgepolstert.
»Der iss wohl ausgegangen … Kommt später wieder, junger Herr«, kürzte die Megäre irgendwann die Sache ab, und die Tatsache, dass ihn diese alte Harpyie, bevor sie sich ihrerseits in ihre Gemächer zurückzog, auf viel weniger als seine fünfzig Jahre geschätzt und ihn mit »junger Herr« angesprochen hatte, verlieh ihm – unglaublich, aber wahr – einen solchen Auftrieb, dass er sich auf einmal tatsächlich »jung« und energiegeladen genug fühlte, um sich ein neues Leben aufbauen zu können – und genau das würde er auch tun, sagte er sich, während er übermütig den Hang hinunterspazierte und sich schwor, dass Eleonora die Sache bald bereuen werde. Allerdings hielt die Wirkung dieser aberwitzigen Zuversichtsspritze nur so lange an, bis er wieder auf der Piazza war – was sollte er sich aufbauen?, und wie?, und mit wem? Und schon ergriff ihn wieder eine solche Niedergeschlagenheit, dass er drauf und dran war, ins Auto zu steigen und nach Hause zurückzufahren, in die Stadt, obwohl ihn schon die Vorstellung, in diesem leeren, düsteren, stillen Haus allein zu sein, bedrückte. Da wäre es doch besser, zum Kindergeburtstag zurückzukehren. Aber wie hätte er einen so plötzlichen Meinungsumschwung begründen sollen?
Unsicher, wie er war, betrat er die Bar und überließ die Lösung des Problems, wie er es immer öfter zu tun pflegte, dem Alkohol.
Die Gänse auf dem Markt
Als er wieder heraustrat, einen Campari Gin in der Hand und zwei weitere intus, die, an der Theke hinuntergekippt, jetzt angenehm in seinem Bauch umherschwappten, musste er zugeben, dass man bisweilen dazu neigt, Situationen zu dramatisieren, die sich am Ende von selbst lösen, und das würde letztlich auch auf seinen eigenen unglückseligen Fall zutreffen. Während also eine kleine Hoffnungswelle sein lädiertes Ego zu massieren begann und ihm alles in einem weicheren und interessanteren Licht erschien, ließ er sich an einem der beiden Tischchen vor dem Lokal nieder, entschlossen, die angenehme Langsamkeit zu genießen, die der Alkohol dem Weltgeschehen verleiht, und einfach den vorüberziehenden Teil der Menschheit zu beobachten.
Und die Menschheit war in diesem Augenblick: ein korpulenter junger Mann in einem viel zu engen schwarzen, abgewetzten Jackett und einem grauen Guruhemd, mit einem dichten Popenbart und einer Brille mit breiter schwarzer Fassung à la Allen Ginsberg – sagen wir ruhig, dass der ganze Typ ein Abklatsch von Ginsberg war; dann zwei Mädchen in schwarzen Jeans, mit Nietengürtel, spitzen Stiefeletten und Haaren in zwei Nuancen der Farbe Lila; ein langer Lulatsch mit schulterlanger Mähne, bestickter Weste und indischen Ledersandalen, in denen er sich von dem schmalen Sträßchen auf der anderen Seite des kleinen Platzes her näherte, wo ein Jaguar aus den Sechzigerjahren parkte. Einen Moment lang – und zweifellos war es der Moment, in dem Fusco von den Häuschen rundum und vom Rest der Passanten, zumeist bebrillten, hustenden Rentnern, abstrahierte – wähnte er
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