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Vermutlich ist die Zeit zu knapp.
Seltsamerweise fühlte er sich erleichtert. Er würde mit Seiner Hoheit zusammentreffen und ihn als Menschen sehen können – so wie jeder andere auch. Er würde einen anregenden und amüsanten Abend mit einigen der einflußreichsten Parteimitglieder von ganz Asien verbringen. Ich glaube, dachte er, daß die Idee mit dem Phenothiazin völlig unnötig war. Und seine Erleichterung wuchs.
»Ah, hier ist sie endlich«, sagte Pethel plötzlich und holte einen weißen Umschlag aus seiner Aktentasche hervor. »Ihre Einladungskarte. Donnerstag morgen fliegen Sie mit einer Sino-Rakete zur Villa des Führers; dort wird Sie dann der Protokollbeamte instruieren, wie Sie sich zu verhalten haben. Vorgeschrieben ist ein Frack mit weißer Binde, aber die Atmosphäre wird sehr entspannt sein. Meistens werden eine ganze Anzahl Trinksprüche ausgebracht.« Er fügte noch hinzu: »Ich habe selbst schon an zwei von diesen Feiern teilgenommen. Mr. Tso - pin« – er lächelte steif – »hat noch nicht diese Ehre gehabt. Aber, wie es so schön heißt, jeder, der warten kann, bekommt schließlich doch, was er will. Ein Ausspruch Ben Franklins.«
»Nach meiner Meinung«, bemerkte Tso-pin, »ist die Einladung für Mr. Chien ein wenig frühzeitig erfolgt.« Philosophisch zuckte er die Achseln. »Aber nach meiner Meinung wird ja niemals gefragt.«
»Noch etwas«, wandte sich Pethel an Chien. »Es ist möglich, daß Sie in irgendeiner Beziehung enttäuscht sein mögen, wenn Sie Seiner Hoheit persönlich gegenüberstehen. Sorgen Sie dafür, falls Sie so empfinden sollten, daß Sie sich dies nicht anmerken lassen. Wir alle sind es gewohnt – und auch so erzogen worden – in ihm mehr als einen Menschen zu sehen. Aber am Tisch ist er« – Pethel fuhr sich durch das Haar – »nun, ein Naturereignis. Natürlich ohne daß unser Respekt vor ihm schwindet. Er mag zum Beispiel in den Augen eines gewöhnlichen Sterblichen nicht ganz vornehm wirken; möglicherweise erzählt er einige unanständige Witze oder er trinkt zuviel… Um ehrlich zu sein, niemand weiß im voraus, was geschehen wird, aber gewöhnlich ziehen sich diese Feiern hin bis zum frühen Morgen. Deshalb wäre es vernünftig, wenn Sie die Dosis Amphetamine annehmen würden, die Ihnen der Protokollbeamte offerieren wird.«
»Oh?« sagte Chien. Das war neu für ihn und interessant.
»Das erhöht das Stehvermögen. Und man verträgt dann mehr Alkohol. Seine Hoheit ist ein sehr trinkfester Mann; oft ist er noch auf den Beinen und schwankt nicht einmal, während alle anderen bereits aufgegeben haben.«
»Ein bemerkenswerter Mann«, warf Tso-pin ein. »Ich glaube, seine… seine liebenswerten Schwächen beweisen, daß er ein hervorragender Mensch ist. Und stets auf der Höhe der Ereignisse; er ist das Idealbild eines Renaissancemenschen wie zum Beispiel Lorenzo di Medici.«
»Daran denkt man unwillkürlich«, bestätigte Pethel. Er musterte Chien mit solcher Aufmerksamkeit, daß die Angst des gestrigen Abends zurückkehrte. Stolpere ich von einer Falle in die andere? fragte sich Chien. Dieses Mädchen – war es vielleicht in Wirklichkeit eine Agentin der Gepol, die mich testen und eine illoyale, parteifeindliche Neigung aus mir herauslocken sollte?
Ich glaube, entschied er, ich sorge am besten dafür, daß mich dieser beinlose Hausierer, der mit den Heilkräutern handelt, nicht abfängt, wenn ich nach der Arbeit nach Hause gehe. Von jetzt an werde ich für den Heimweg einen ganz anderen Weg nehmen.
Er hatte Erfolg. An diesem Tag entging er dem Hausierer, und auch am nächsten und übernächsten Tag.
Am Donnerstag morgen allerdings rollte der Hausierer hinter einem geparkten Lastwagen hervor und stellte sich ihm in den Weg.
»Meine Medizin«, fragte der Hausierer, »hat meine Medizin Ihnen geholfen? Ich weiß, daß sie geholfen hat, ich bin mir sogar ganz sicher; die Formel stammt noch aus der Sung-Dynastie. Ich weiß Bescheid. Nicht wahr?«
»Lassen Sie mich vorbei«, verlangte Chien.
»Würden Sie so freundlich sein und mir eine Antwort geben?« Der Tonfall war nicht das anpreisende Gejammer eines Straßenhausierers, der seinem kärglichen Geschäft nachging. Ganz deutlich hörte Chien diese Stimme, hörte sie laut und klar… wie jene Stimmen der imperialistischen Marionettentruppen, die es schon so lange nicht mehr gab.
»Ich weiß, was Sie mir gegeben haben«, erklärte Chien. »Und ich möchte nichts mehr davon haben. Sollte ich meine
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