Die Bestie von Florenz
lebe.«
Wir standen auf. An der Tür nahm sie Marios Hand. »Sie können gern weiter nach der Wahrheit suchen, Mario. Ich hoffe, Sie finden sie. Aber bitten Sie mich nicht darum, Ihnen zu helfen. Ich will versuchen, meine letzten Jahre ohne diese Bürde zu verleben – ich hoffe, das können Sie verstehen.«
»Ich verstehe vollkommen«, sagte Mario.
Wir gingen hinaus in die Sonne. Bienen summten in den Blumen, die Sonne zog eine glitzernde Spur über die Oberfläche des Sees, beschien die roten Ziegeldächer von Vicchio und sandte goldene Strahlen über Weinberge und Olivenhaine hinter dem Ort. Die vendemmia , die Weinlese, war in vollem Gange, in den Weinbergen wimmelte es von Leuten und Karren. Die warme Luft trug den Duft von zerdrückten Trauben und gärendem Most zu uns herauf.
Ein weiterer herrlicher Nachmittag in den unsterblichen Hügeln von Florenz.
Kapitel 60
Der Prozess gegen Francesco Calamandrei als einem der Anstifter der Bestien-Morde begann am 27. September 2007.
Mario Spezi wohnte dem ersten Verhandlungstag bei und schickte mir ein paar Tage später seinen Bericht per E-Mail. Hier ist er:
Der Morgen des 27. September war unerwartet kalt nach der trockenen Hitze der vergangenen vier Wochen. Die größte Neuigkeit an diesem Morgen war das Fehlen von Zuschauern beim Prozess gegen einen angeblichen Hintermann der Bestie von Florenz. In dem Gerichtssaal, in dem mehr als zehn Jahre zuvor Pacciani erst verurteilt und dann freigesprochen worden war, waren alle für die Öffentlichkeit vorgesehenen Plätze leer. Nur die Bänke für die Journalisten waren besetzt. Ich konnte kaum verstehen, dass die Florentiner so gleichgültig gegenüber einer Person sein sollten, die der Anklage zufolge beinahe die Inkarnation des Bösen war. Skepsis, Ungläubigkeit oder verlorenes Vertrauen in die Ermittlungen mussten die Zuschauer abgehalten haben.
Der Angeklagte betrat den Gerichtssaal mit kleinen, zögerlichen Schritten. Er wirkte bescheiden, sogar resigniert. Der Blick seiner dunklen Augen verlor sich in unlesbaren Gedanken, und er strahlte die Würde eines in den Ruhestand getretenen Herrn aus. Er trug einen eleganten blauen Mantel und einen grauen Hut, und der dicke Leib war von Kummer und Psychopharmaka aufgeschwemmt. Er stützte sich halb auf seinen Anwalt, Gabriele Zanobini, und seine Tochter Francesca. Der Apotheker von San Casciano, Francesco Calamandrei, nahm auf der Anklagebank Platz, ohne auf die Blitze der Fotografen und die Fernsehkameras zu achten, die auf ihn gerichtet waren.
Ein Journalist fragte ihn, wie er sich fühlte. Er antwortete: »Wie jemand, der in einen Film hineingeworfen wurde, ohne etwas über die Handlung oder die Figuren zu wissen.«
Die Staatsanwaltschaft Florenz beschuldigt Calamandrei, als Auftraggeber hinter fünf Morden der Bestie von Florenz zu stecken. Sie behauptet, er habe Pacciani, Lotti und Vanni dafür bezahlt, dass sie diese Verbrechen begingen und die Sexualorgane der weiblichen Opfer entnahmen, damit er sie für grausige, aber nicht näher erläuterte okkulte Rituale benutzen konnte. Ihm wird vorgeworfen, an dem Doppelmord an den beiden französischen Touristen auf der Scopeti-Lichtung 1985 selbst beteiligt gewesen zu sein. Außerdem soll er den Doppelmord von 1984 in Vicchio in Auftrag gegeben haben, den Doppelmord vom September 1983, bei dem die beiden Deutschen starben, und den Doppelmord vom Juni 1982 in Montespertoli. Über die brennende Frage, wer die anderen Morde der Bestie verübt haben mochte, hüllt sich die Staatsanwaltschaft in Schweigen.
Die Beweise gegen Calamandrei sind lachhaft. Sie bestehen vor allem aus dem irren Gerede seiner schizophrenen Ex-Frau, die so schwer krank ist, dass die Ärzte ihr verboten haben, vor Gericht auszusagen. Außerdem gibt es noch Zeugenaussagen derselben »primitiven, gewohnheitsmäßigen Lügner«, die als Alpha, Beta, Gamma und Delta bekannt sind und zehn Jahre zuvor bereits gegen Pacciani und seine Picknick-Freunde ausgesagt hatten. Besonders bemerkenswert ist daran, dass alle vier Algebra-Zeugen inzwischen verstorben sind. Übrig ist allein der Serienzeuge Lorenzo Nesi, stets bereit, sich an alles zu erinnern, was gerade benötigt wird.
Außerdem wird gegen Calamandrei ein wahrer Berg von Papier ins Feld geführt: achtundzwanzigtausend Seiten über den Prozess gegen Pacciani, neunzehntausend Seiten über die Ermittlungen gegen seine Picknick-Freunde, und noch einmal neuntausend Seiten über Calamandrei selbst. Das sind
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