Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
sich in die Außenbezirke vor, bis ihnen schließlich das Material ausging. Dort, wo ich wohne, sind die Wege immer noch rissig und geflickt und es ist gefährlich, sie zu benutzen. Aber wir haben ja ohnehin kein Auto.
Der Bus rattert und ruckelt die Straße entlang, doch die Miene meines Bruders bleibt sanft und gelassen. Der Ärmel seiner grauen Jacke rutscht zurück, als Caleb nach einer Stange greift, um sich festzuhalten. Unaufhörlich lässt er seinen Blick umherschweifen; er beobachtet die Menschen um uns herum, konzentriert sich ganz auf sie, um sich nicht nur mit sich selbst zu beschäftigen. Einem Candor geht Aufrichtigkeit über alles, für einen Altruan steht Selbstlosigkeit an erster Stelle.
Der Bus hält vor der Schule. Ich springe auf und zwänge mich an dem Candor-Mann vorbei. Dabei stolpere ich über seine Füße und kann mich gerade noch an Caleb festhalten. Meine weit geschnittene Hose ist viel zu lang, und besonders graziös war ich noch nie.
Alle Schüler der Stadt sind getrennt nach Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe untergebracht. Unser Oberstufengebäude ist das älteste der drei Schulhäuser. Wie alle anderen Gebäude besteht es ganz aus Glas und Stahl. Vor dem Eingang steht eine hohe Metallskulptur, auf der die Ferox nach Schulschluss herumklettern, wobei sie sich gegenseitig anstacheln, noch ein Stück höher zu steigen. Im letzten Jahr war ich dabei, wie ein Mädchen abgestürzt ist und sich das Bein gebrochen hat. Ich war diejenige, die sofort losgelaufen ist, um eine Sanitäterin zu holen.
» Heute ist also der Eignungstest«, sage ich laut. Caleb ist nur ein knappes Jahr älter als ich, deshalb sind wir im selben Jahrgang.
Er nickt, während wir durch die Eingangstür gehen. Sofort sind meine Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Alle Sechzehnjährigen wirken heute irgendwie gierig, so als wollten sie diesen Tag in sich aufsaugen. Wahrscheinlich werden wir nach der Zeremonie der Bestimmung nie wieder durch diese Gänge laufen, denn sobald wir uns für eine Fraktion entschieden haben, übernimmt diese Fraktion unsere weitere Ausbildung.
Die Schulstunden dauern heute nur halb so lange wie sonst, sodass wir ein letztes Mal alle Fächer haben, bevor nach dem Mittagessen die Tests stattfinden. Bei dem Gedanken daran beschleunigt sich mein Puls.
» Du machst dir doch keine Sorgen über dein Ergebnis, oder?«, frage ich Caleb.
An der Weggabelung bleiben wir stehen. Caleb wird in die eine Richtung gehen, zum Mathekurs, und ich in die andere, zur Geschichte der Fraktionen.
Er zieht eine Augenbraue hoch. » Du etwa?«
Ich könnte ihm jetzt antworten, dass ich mich schon seit Wochen nervös frage, zu welcher Fraktion ich am besten passen werde– zu den Altruan, den Candor, den Ken, den Amite oder den Ferox? Stattdessen lächle ich und sage: » Nein, eigentlich nicht.«
Auch Caleb lächelt. » Okay… dann mach’s mal gut.«
Nervös auf meiner Unterlippe kauend, trotte ich weiter. Meine Frage hat Caleb nicht beantwortet.
Die Flure sind voller Menschen, aber das Licht, das durch die Fenster fällt, erzeugt den Eindruck von Weite und Raum. Es ist einer der wenigen Orte, an denen Gleichaltrige der verschiedenen Fraktionen aufeinandertreffen. Heute ist die Atmosphäre besonders energiegeladen, eine Art Jahresschluss-Hysterie liegt in der Luft.
Ein Mädchen mit langen Lockenhaaren, das an mir vorbeigeht, ruft laut: » Hey!«, und winkt einem Freund zu, der in einiger Entfernung steht. Irgendjemandes Jackenärmel streift meine Wange. Dann schubst mich ein Junge, er trägt den blauen Pullover der Ken. Ich verliere das Gleichgewicht und falle der Länge nach hin.
» Aus dem Weg, Stiff«, schnauzt er mich an und läuft weiter.
Mit rotem Gesicht stehe ich auf und klopfe mir den Staub von den Kleidern. Einige Schüler sind stehen geblieben, aber geholfen hat mir keiner. Sie glotzen mir bis zum Ende des Gangs nach. Seit Monaten passiert das den Mitgliedern meiner Fraktion. Genauer gesagt, seit die Ken fiese Gerüchte über die Altruan verbreiten. Gerüchte, die sich auf unseren Umgang miteinander in der Schule auswirken. Meine graue Kleidung, der schlichte Haarschnitt, ein bescheidenes Auftreten– das alles soll es mir erleichtern, nicht an mich selbst zu denken. Und auch die anderen sollen nicht an mich denken. Aber genau dadurch werde ich zur Zielscheibe für sie.
Ich bleibe am Fenster des E-Korridors stehen und warte darauf, dass die Ferox auftauchen. Jeden Morgen mache ich das so.
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