Die Bestimmung
anderen Nächten.
Nilah öffnete die Tür und stieg aus. Die trockenen Kleider, die ihr neuer Helfer mitgebracht hatte, passten sogar.
Liran folgte ihr und roch in die Nachtluft. Gerade als ihr Vater sich ducken wollte, um ebenfalls auszusteigen, hob Nilah abwehrend die Hand.
«Nein, Papa!» Sie bemerkte den erschrockenen Gesichtsausdruck in seinen Augen.
Ihr Vater zog den Kopf wieder ein. Es war, als zerreiße ein hauchdünnes Band zwischen ihnen.
Sein Blick fiel auf Liran. «Du passt auf sie auf, ja?»
Nilah hörte keine Antwort, aber ihr Vater setzte sich zurück und nickte erleichtert.
«Ian?» Der Ire drehte sich vom Fahrersitz zu ihr um, mit einem durchdringenden Grinsen auf den Lippen. «Ich gebe Euch ein Zeichen, wenn wir da wieder 'raus müssen.» Sie hielt ihr Handy in den Wagen. Er lächelte als Antwort nur ein wenig bedrohlicher. Nilah gab sich damit zufrieden und schlug die Wagentür zu.
Als der Jeep langsam losrollte, sah sie ihren Vater, wie er durch die Heckscheibe blickte. Ich liebe Dich , formten seine Lippen. Ich Dich auch , formten die ihren zurück. Dann verschwand der dunkle Wagen, blinkte ordnungsgemäß nach links Richtung Innenstadt, bog ab und war verschwunden.
Das hatte man davon, wenn man seit Tagen keine Zeitung las, keine Nachrichten sah oder in die Schule ging – man war nicht informiert! Als sie um die Ecke bogen, bemerkte Nilah die vielen Menschen und ihr Magen zog sich zusammen. So viel also zum Thema: 'Rein – 'Raus – Weglaufen! Sie drehte sich um und sah, dass Liran vor dem fast fünfzehn Meter hohen Totempfahl stehen geblieben war, der das Museum seit vielen Jahren wie ein einsamer Wachturm zu beschützen schien.
«Den hat ein Indianer geschnitzt – Seven Lame Deer war sein Name», erklärte sie und starrte ebenfalls den mächtigen Stamm hinauf.
«Beeindruckend», murmelte Liran.
«Ja, das ist es.» Sie zog Liran weiter.
Rechts verlief eine niedrige Mauer mit einer Hecke darauf. Die Fenster des Museums dahinter waren allesamt erleuchtet. Dann erblickte sie das riesige Plakat, das an der Fassade des Museums herunterhing und sich leicht im Wind wellte: Die Nacht der Museen stand darauf. Ein großer Linienbus bog in die Einfahrt ein, hielt vor dem Eingang und Menschen, viele Menschen strömten aus den beiden geöffneten Türen, lachten, unterhielten sich, hoben Rucksäcke über ihre Schultern, während sie dem Eingang zu strebten. Nilah starrte fassungslos auf das Treiben.
Sie kamen auf den weiten Vorplatz, der von zwei steinernen Löwen bewacht wurde. Nilah erkannte, dass Liran jedes Detail in sich aufsog. Der Eingang sah aus wie ein mächtiger Rundturm, der nur zur Hälfte aus dem Gebäude lugte, mit drei hohen eckigen Säulen, die eine Art Balkon trugen, auf denen jeweils große Steinfiguren standen und Ehrfurcht einforderten.
Nilah konnte es nicht glauben. Sie waren an dem einzigen verdammten Tag hergekommen, an dem ganz Hamburg mit dem Bus durch die Stadt fahren konnte, um jedes Museum zu besichtigen, das es gab! Der Laden würde gerappelt voll sein, unmöglich, etwas zu stehlen! Lauter Hobbykundler und irre Nachtschwärmer würden durch die verzweigten Gänge huschen, kichern und Fotos machen, während ein paar überforderte Angestellte versuchen würden zu verhindern, dass nichts abhanden kam. Es war ein Alptraum. Wie schnell das Leben einem doch in den Arsch treten konnte. Ein Typ im schnieken Anzug beäugte sie abschätzend, dann senkte er den Blick. Wahrscheinlich war der Arme von seiner Freundin hergeschleift worden und sehnte sich nach einer Cocktailbar. Liran trat neben sie und fixierte dabei immerzu das imposante Gebäude.
«Ich kann sie fühlen!» hauchte er.
Nilah drehte sich zu ihm. «Was kannst Du fühlen?»
«Die Geschichten in diesem Haus. Es ist, als ob hunderte Menschen gleichzeitig etwas zu erzählen hätten. Sie reden durcheinander, aber sie sprechen eine gemeinsame Sprache. Und zwischen ihnen spüre ich so etwas wie Spalten.»
«Spalten?»
«Holz liegt neben Eisen. Leben neben Leid. Vieles ist herausgerissen, gestohlen, falsch und unwirklich. Es sind viele Lügner unter den Stimmen!»
Nilah verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Sie zog den Krieger weiter zum Eingang, die Treppe hinauf. Sie roch so viele andere Menschen um sich herum. Was mochte er riechen? Immer dichter wurde das Gedränge, bis sie endlich in der Eingangshalle standen und für einen Moment innehalten mussten.
Die quadratische Halle hatte etwas
Weitere Kostenlose Bücher