Die Beute
war überhaupt nichts mehr übrig.
Die Flammen erstarben allmählich, nachdem sie den letzten Rest des Fotos verzehrt hatten. Ein paar Stücke davon fielen herunter. Andere Fetzen schwebten erst in der Luft und dann langsam zu Boden. Funken sprühten bis an die Decke.
Und dann hing nur noch ein verkohltes, schwelendes Rechteck an der Wand.
Jenny fiel auf die Knie, die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie hatte selbst nicht gewusst, dass sie solche Laute von sich geben konnte.
»Jenny, nein. Nein. Oh Gott, Jenny, bitte, hör auf.« Dee weinte ebenfalls, Tränen tropften auf ihren Hals. Dee, die niemals weinte. Audrey kroch von der anderen Seite herbei und schlang die Arme um sie beide. Alle schluchzten.
»Hört mal, ihr drei – tut das nicht«, keuchte Michael. Jenny spürte noch ein Paar Arme um ihre Taille und versuchte, sie alle abzuschütteln. »Jenny – Jenny, es ist vielleicht nicht so schlimm. Er hat es vielleicht auf die andere Seite geschafft. Wenn er es in die Cafeteria geschafft hat, ist alles in Ordnung mit ihm.«
Jenny konnte nicht aufhören zu schluchzen, aber sie hob leicht den Kopf. Michaels Gesicht war schmutzig, ängstlich und todernst.
»Lasst uns nachdenken. Es hat mehr als zehn Sekunden
gedauert, bis das Bild verbrannt war. Und ohne uns konnte er viel schneller laufen. Also hat er es wahrscheinlich tatsächlich auf die andere Seite geschafft – und das bedeutet zumindest, dass er lebt.«
Jennys Körper zitterte. »Aber … aber Zach …«
»Er hat es vielleicht ebenfalls geschafft«, sagte Michael verzweifelt. »Es geht ihm vielleicht gut.«
Jenny sah zu ihm auf. Das Zittern war immer noch da, wurde aber schwächer. Sie fühlte sich wieder etwas verbundener mit der Welt um sie herum. »Wirklich?«, wisperte sie. »Denkst du das?«
Genau in diesem Moment gab Dee einen seltsamen Laut von sich, als hätte sie etwas gebissen.
»Seht nur!«, rief sie.
Jenny wandte den Kopf und folgte Dees Blick. Dann stieß sie ein Zischen aus und drehte sich ganz herum, um die Fotografie anzustarren.
Auf der rußschwarzen Oberfläche erschienen Buchstaben, genauso wie auf Michaels Fenster in diesem unnatürlichen Eis Buchstaben erschienen waren. Nur dass diese hier anmutig geschwungen waren, eine fließende Schrift bildeten, die quer über das Bild lief. Als würden sie von einem riesigen Kalligrafiepinsel gemalt. Sie glühten rot wie Kohlen, umgeben von Rauchschwaden.
Eure Freunde sind bei mir – in der Schattenwelt. Wenn ihr sie zurückhaben wollt, kommt mit mir auf eine Schatzsuche. Aber vergesst nicht: Wenn ihr verliert, bekommt der Teufel den Preis.
»Oh nein«, flüsterte Michael.
»Aber sie sind nicht tot«, sagte Audrey zittrig. Die roten Buchstaben verblassten bereits wieder. »Seht ihr, sie sind nicht tot. Julian behält sie, um mit ihnen zu feilschen.«
»Gott.« Das war alles, was Dee sagte.
Jenny hockte sich hin, sie bewegte ihre Finger, öffnete und schloss ihre Hände, bereitete sie zum Handeln vor. Sie dachte an die Schattenwelt, an das wirbelnde Eis und die Dunkelheit in dem Schrank und an die grausamen, uralten, hungrigen Augen. Tom war irgendwo unter diesen Augen, genau wie ihr Cousin.
Sie wusste es – aber sie zitterte nicht länger. Ihre Schwäche und Verwirrung hatten sich aufgelöst. Sie hatte die Herausforderung vernommen und verstanden.
Jetzt hatte sie keine Angst mehr vor Julian. Sie war stärker als je zuvor – stärker, als sie es je für möglich gehalten hätte. Und sie wusste, was sie tun musste.
»Richtig«, sagte sie und hörte ihre eigene Stimme, klar und kalt wie ein Trompetenstoß. »Er will ein neues Spiel? Er wird es bekommen. Ich weiß jetzt, dass ich ihn schlagen kann.«
»Jenny …«, begann Michael und sah sie furchtsam an.
Jenny schüttelte den Kopf und straffte die Schultern. »Ich kann ihn schlagen«, wiederholte sie mit absoluter Gewissheit. An das qualmende Foto gewandt, das wieder leer und vollkommen schwarz war, sagte sie: »En garde, Julian. Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.«
cbt ist der Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
Erstmals als cbt Taschenbuch September 2012
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 1994 by Lisa J. Smith
Die amerikanische Originalausgabe erschien
unter dem Titel »Forbidden Game – The Chase«
bei Simon & Schuster, New York.
© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag
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