Die Bibel
oder vielleicht sogar mitgelacht.
Danach sagte in jener Jerusalemer Nacht der Vater im Bett zu seinem Sohn, bestimmt würden auch ihm noch öfter irgendwelche Rowdys auf der Straße oder in der Schule zusetzen. Aber von heute an würden ihm die Rowdys niemals mehr deswegen zusetzen, weil er Jude sei und weil die Juden so und so seien. «Das –nicht. Niemals. Von dieser Nacht an ist hier Schluss damit. Schluss für immer.»
Nach einer kleinen Pause streckte der Junge die Hand aus, um das Gesicht seines Vaters zu berühren, aber statt der Brille spürten seine Finger plötzlich Tränen. Kein einziges Mal in seinem Leben, nicht vor dieser Nacht und nicht nach dieser Nacht, nicht einmal beim Tod seiner Mutter, habe er seinen Vater weinen gesehen.
An jenem 29. November 1947 hatte die Vollversammlung der Vereinten Nationen über das Vorhaben abgestimmt, auf dem britischen Mandatsgebiet in Palästina zwei Staaten zu errichten, einen jüdischen und einen palästinensischen. Der Plan wurde mit einer deutlichen Mehrheit angenommen. Damit war der Weg frei für die Neugründung des jüdischen Staates Israel. Knapp 1900 Jahre nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem erhielten die Juden dieser Welt wieder einen eigenen Staat. Heute leben in diesem Staat wieder so viele Menschen, wie von den Deutschen ermordet worden waren – etwas mehr als sechs Millionen.
Der kleine Junge, der damals seinen Vater zum ersten und einzigen Mal weinen sah, war Amos Oz. Er berichtet, mit welch ungeheurer Spannung damals die Menschen in seinem Viertel, in Jerusalem, in ganz Palästina in den Straßen und auf Plätzen übers Radio und öffentliche Lautsprecher den Bericht von der Abstimmung verfolgt hatten. Er berichtet von dem Schrei der Erlösung, dem lärmenden Jubel, dem Gesang und den Freudentänzen, die in allen jüdischen Vierteln Palästinas einsetzten, als das Ergebnis bekannt gegeben wurde. Und von der Stille in den arabischen Vierteln.
Ein halbes Jahr später, am 14. Mai 1948 wurde in Tel Aviv der jüdische Staat Israel ausgerufen. Nur wenige Stunden danach fielen, ohne Kriegserklärung, aus allen vier Himmelsrichtungen arabische Infanterie-, Artillerie- und Panzertruppen in Israel ein. Es begann der bis in unsere Tage dauernde Unfrieden in Nahost. EinProzent der damals in Israel lebenden Juden wurden getötet, und seitdem hörte das Sterben nicht mehr auf, nicht bei den Juden und nicht bei den Arabern. Bis heute nicht.
Aber Israel ist wieder ein Staat. Was ist sein Zweck? Nie mehr sollen Juden, wenn sie irgendwo auf der Welt wieder einmal verachtet, schikaniert, verfolgt, massakriert oder ermordet werden, diesem Schicksal alternativlos ausgeliefert sein. Sie haben jetzt eine Zufluchtsstätte auf dieser Welt.
Eigentlich reicht das schon als Zweck. Weiterer Rechtfertigungen bedarf es nicht. Dennoch fragen sich die Juden von damals bis heute, ob sich Israels Zweck in seiner Funktion als sicherer Hafen für die Juden der Welt schon erschöpft. Oder gibt es darüber hinaus eine Idee davon, was Israel sein oder werden soll?
«Es gab Leute», sagt Amos Oz, «die kamen in dieses Land mit dem Wunsch, hier eine westliche, liberale, soziale, säkulare, tolerante und moderne Demokratie zu gründen.» Den orientalischen Juden habe «eine Art marokkanisch-tunesische Republik jüdischer Prägung» vorgeschwebt. Nicht wenige hätten «ein marxistisch-zionistisches Paradies» schaffen wollen. Andere hätten die Wiederherstellung der biblischen Königreiche von David und Salomo erwartet. «Wieder andere wollten nur dasitzen und auf den Messias warten. Manche sahen sich selbst als Messias.» In seiner Kindheit sei Jerusalem ein total verrückter Ort gewesen. «Jeder war ein Erlöser. Jeder wollte irgendwen kreuzigen oder selbst gekreuzigt werden.»
Im Grunde war es im Israel des Jahres 1948 nicht prinzipiell anders als im Israel zur Zeit der Geburt Jesu. So chaotisch wie die Zeitgenossen von Amos Oz, so völlig uneins und zerstritten und dennoch geeint durch ihre gemeinsame Geschichte, ihre Herkunft und ihren Gott waren auch die Zeitgenossen Jesu vor zweitausend Jahren.
Damals, als in Bethlehem jenes Judenkind geboren wurde, vondem später die Christen behaupteten, es sei der von den Juden erwartete Messias, befand sich die Welt in jenem Normalzustand, in dem sie sich meistens befindet. Es gab eine Supermacht, Rom. Es gab einen Herrscher, Kaiser Augustus. Es gab einen römischen Statthalter, zunächst Quirinius, später Pontius
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