Die Bibel
sondern sie bilden Gemeinden, feiern den Sabbat und die jüdischen Feste, helfen und unterstützen sich gegenseitig, befolgen die Tora so gut sie es können und so weit sie das jeweilige Gastland gewähren lässt. Und sie erfinden sich ein Überlebensmittel, das ebenfalls einmalig ist in der Welt: die Synagoge, eine um die Tora herum gebaute Mehrzweck-Einrichtung. Sie ist Bethaus, Gericht, Standesamt, Börse, Versammlungsraum und Hotel in einem. Dort, in der Synagoge und drum herum, findet nun über zwei Jahrtausende auf der ganzen Welt das jüdische Leben statt.
Zerstreut in alle Welt, aber zugleich miteinander verbunden, weltweit vernetzt – was ist daran eigentlich so schlecht? War die Zerstreuung wirklich eine Strafe Gottes für das Versagen des Staates Israel? Oder muss man nicht vielmehr aus dem Staatsversagen den Umkehrschluss ziehen, dass die staatliche Existenz vielleicht nicht die gottgewollte Form des Gottesvolkes ist?
Ist eine weltweit vernetzte Gemeinde dem Volk Gottes nicht viel gemäßer als ein gewöhnlicher Nationalstaat? Die Frage nach der richtigen Form des Gottesvolkes ist bis heute noch nicht endgültig beantwortet. Auch den Christen und den Muslimen stellt sie sich: Gottesstaat, Bündnis von Staat und Kirche, staatlich privilegierte Volkskirche oder freie, unabhängige Minderheit inmitten weltanschaulich neutral regierter Länder?
Die zahlreichen Krisen, welche die Juden im Lauf ihrer Geschichte überstehen mussten, haben diese gezwungen, alle vermeintlichen Gewissheiten immer wieder infrage zu stellen. Kaum ein Volk hat über sein Schicksal und dessen Gründe so intensiv nachgedachtwie die Juden. Das Nachdenken darüber führte dieses Volk bis an die Grenzen des Atheismus. Diese Grenze wurde erstmals berührt, als in Israel die prophetische Wenn-dann-Theologie überprüft wurde, der Glaube: Wenn Israel Gottes Willen befolgt, dann kommt es voran; wenn Israel es nicht tut, fährt es an die Wand. Auch den Christen wird seit zweitausend Jahren beigebracht: Haltet die Gebote, handelt nach Gottes Willen, und alles wird gut.
Das Alte Testament selber zertrümmert diese Logik mit einer einzigen Geschichte. Im Buch Hiob wird erzählt, wie Gott sich auf eine Wette mit dem Teufel einlässt, die auf dem Rücken des unschuldigsten Menschen ausgetragen wird, den Gott kennt und von dem er selber sagt:
Seinesgleichen ist nicht auf Erden
.
Aber der Teufel sagt zu Gott: «Dieser Hiob, auf den du so große Stücke hältst, ist doch überhaupt nichts Besonderes. Hiob geht’s gut, er hat sieben Söhne und drei Töchter, ist reich, gesund, stark, mächtig, der Größte im ganzen Morgenland, da ist es doch ein Leichtes, tugendhaft zu sein und Gott zu loben. Seine wahre Tugend würde sich erst im Unglück zeigen. Wenn du ihm alles wieder wegnähmst, was du ihm gegeben hast, und er danach immer noch zu dir stehen und dich loben würde, dann erst wäre erwiesen, dass er tatsächlich so gut ist, wie du von ihm denkst.»
«Gut», sagt Gott zum Teufel, «nimm ihm alles weg bis aufs Leben, und dann wollen wir sehen, was Hiob tut. Ich wette, er wird sich bewähren.» Der Teufel macht sich sogleich ans Werk, nimmt Hiob seinen ganzen Besitz, sogar die Kinder. Gott schaut zu, wie die Familie seines treuesten Knechts brutal erschlagen wird.
Und Hiob? So viel «Hiobsbotschaften» auch eintreffen, er bleibt Gott treu. Er klagt, aber klagt nicht an, und als Gott und der Teufel sich wieder treffen, sagt Gott triumphierend: «Siehst du? Alles hat Hiob verloren, und dennoch hält er treu zu mir.»
«Es geht ihm eben noch nicht schlecht genug», antwortet der Teufel. «Hiob ist jetzt zwar arm, aber gesund. Nimm ihm die Gesundheit,und du wirst sehen, wie er dich verflucht.» Gott willigt ein, und der Teufel plagt Hiob mit Geschwüren vom Fuß bis zum Scheitel, sodass
Hiob eine Scherbe nahm, um sich damit zu kratzen, und sich in den Aschenhaufen setzte
. Seine Frau kommt zu ihm und sagt mit dem der Frau eigenen Verstand: «Sag dich los von diesem Gott, der mit Füßen auf dir herumtrampelt.»
Hiob hält nichts von gesundem Frauenverstand, schilt seine Frau als töricht und erklärt mit seltsamer Logik: «Haben wir Gutes empfangen von Gott, sollten wir das Böse nicht auch annehmen?»
Drei Freunde besuchen Hiob. Sie erkennen ihn kaum wieder, bemitleiden ihn, und Hiob klagt und stöhnt, wünscht, er wäre nie geboren worden, aber sagt kein böses Wort über den, der ihn so grundlos leiden lässt.
Grundlos oder nur scheinbar
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