Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
Kapitel 1
E inige wenige fahle Sonnenstrahlen tasteten sich wie leuchtende Finger über den stahlgrauen Himmel Rujanas. Amra, die im harten Küstengras lag und zu den Wolken aufblickte, gruselte sich ein bisschen bei dem Gedanken, die Götter könnten so nach ihr greifen. Sie fuhr zusammen, als sie Hufeklappern und eine Stimme hinter sich hörte.
»Amra! Was machst du denn hier? Deine Mutter sucht dich. Die Heringe …«
Amra richtete sich auf und erkannte Herrn Baruch auf seinem Pferd, den Kaufmann aus Stralow, dem ihre Mutter das Haus führte. Wie viele Händler besaß er einen Stützpunkt auf Rujana – die Insel war ein Zentrum des Heringshandels.
»Die Fischer sind vorhin ausgefahren«, führte Baruch weiter aus und zügelte seine kleine Stute, die am liebsten gleich weitergelaufen wäre.
Amra nickte. Das hätte ihr kaum entgehen können. Wenn die Heringsschwärme gesichtet wurden, die Rujanas Reichtum und das Auskommen der Fischer des Örtchens Vitt sicherten, rief eine Glocke die Männer zu den Booten. Sie ließen dann alles stehen und liegen – ob es eine wichtige Arbeit war, eine Bestattung oder ein Gottesdienst. Die Priester von Arkona tadelten sie deshalb mitunter, aber nicht sehr scharf. Auch der Reichtum ihres Heiligtums erwuchs schließlich aus den Segnungen des Meeres.
»Ich hasse Heringe«, bemerkte Amra und strich ihr langes, leuchtend rotes Haar zurück.
Baruch lächelte. »Sie gehören auch nicht unbedingt zu meinen Leibspeisen«, meinte er. »Aber in gewisser Hinsicht ernähren sie uns beide. Also solltest du nicht hier herumliegen und träumen, sondern dich zu den Mädchen im Ort gesellen und auf die Fischer und ihre Beute warten.«
Amra seufzte. Wenn die Fischer mit ihrem Fang zurückkehrten, mussten Aberhunderte von Heringen ausgenommen und in Fässern eingesalzen werden. Eine schmutzige und schweißtreibende Arbeit, die alle Bewohner von Vitt bis in die Nacht beschäftigen würde. Und es bestand keine Chance, dass der Fang dieses Mal vielleicht nicht so reichlich ausfiel. Die Heringsschwärme wanderten im Frühjahr von der Ostsee in die Küstengewässer, um zu laichen, und die Fische waren zahlreich wie die Sterne am Himmel. Man brauchte nicht einmal Netze, um sie in die Boote zu befördern, die Fischer schöpften sie in Eimern an Bord.
»Wo reitet Ihr denn hin, Herr?«, fragte Amra, um das Thema zu wechseln. Je später sie ins Dorf kam, desto besser.
Sie stand auf, klopfte ihr Kleid aus und wanderte dann neben dem falbfarbenen Pferd des Kaufmanns her – wohl wissend, dass sie sich damit von Vitt entfernte, statt sich weisungsgemäß ins Dorf zu begeben.
Baruch schmunzelte. Natürlich durchschaute er das Manöver, aber er war gern mit Amra zusammen. Die schlaksige Dreizehnjährige war lebhaft und klug – dazu versprach sie, ausgesprochen hübsch zu werden mit ihrem roten Haar und den klaren grünen Augen. Er wäre stolz gewesen, hätte er sie seine Tochter nennen dürfen … Doch Baruch rief sich allein bei dem Gedanken zur Ordnung. Niemand durfte jemals wissen, dass Mirnesa, Amras Mutter, ihm mehr war als eine Wirtschafterin und dass Amra … Nun ja, auf der Insel redete man natürlich darüber, dass sie das rote Haar kaum von Mirnesas erstem, früh verstorbenem Gatten haben konnte. Baruch selbst begann zwar langsam zu ergrauen, aber er versteckte seinen karottenroten Schopf meist unter einer Kopfbedeckung. Die bedeckte dann auch seine Jarmulke, das Käppchen, das ihn als gläubigen Juden auswies. Zu Hause in Stralow allerdings … Baruch hätte sich der Ächtung der jüdischen Gemeinde ausgesetzt, hätte man gewusst, dass er hier auf Rujana das Bett mit einer ranischen Geliebten teilte, die ihm obendrein ein Kind geboren hatte.
»Wo denkst du denn, dass ich hinreite, Amra, wenn ich den Höhenweg von Vitt aus nehme?«, neckte er jetzt das Mädchen. »Fallen dir da wirklich so viele Ziele ein, dass du fragen musst?«
Amra fühlte sich ertappt, lächelte die Schmach aber weg. »Nach Norden, nach Arkona«, antwortete sie schließlich, als hätte er die Frage ernst gemeint. »Zur Burg, zu den Priestern und zum König. Ich weiß jedoch nicht, was Ihr da wollt. Die Heringe sind gerade erst gekommen. Ihr müsst dem Gott noch nicht opfern …«
König Tetzlav, der Herrscher von Rujana, und die mächtige Priesterschaft des Gottes Svantevit erlaubten den Fernhandel und die Ansiedlung der Kaufleute aus aller Welt auf ihrer Insel. Allerdings forderten sie Abgaben – anderswo als Zölle
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