Die Bibliothek der Schatten Roman
der Trauergäste und das leise Schniefen derer, die ein paar Tränen zerdrückten, während seine eigenen Augen trocken blieben. Im Geiste sah er die Bilder einer anderen Beerdigung vor sich, einer Beerdigung, die ganz anders verlaufen war und bei der er als Zehnjähriger aus der Kirche in die beißende Winterkälte geführt und von einer entfernten Tante getröstet werden musste. Jedenfalls hatte sie es versucht. Damals war seine Mutter beerdigt worden, die viel zu jung gestorben war. Warum, hatte er erst viele Jahre später erfahren. Nicht das existentielle Warum, sondern die harten
Fakten: Marianne, Jons Mutter und Lucas dänische Frau, hatte Selbstmord begangen und sich aus dem fünften Stock ihres Hauses gestürzt. Ob es an der Kälte vor der Kirche oder an seiner Verzweiflung gelegen hatte, dass sich sein Weinen damals in ein herzzerreißendes Stottern verwandelt hatte, war ungewiss, aber das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, hatte sich derart in ihn eingebrannt, dass er seither bei keiner Beerdigung mehr gewesen war.
Auf Aufforderung des Priesters sangen die Anwesenden ein paar ausgewählte Lieder, ehe Iversen das Wort erteilt wurde. Lucas treuer Mitarbeiter und Freund griff sich den Bücherstapel, der unter seinem Stuhl lag, und erhob sich. Er stieg über die Blumengebinde und trat an das Rednerpult. Dort ließ er den Stapel Bücher ein paar Zentimeter über der Pultplatte los, so dass sie mit einem hörbaren Knall aufschlugen. Er erntete vereinzeltes Grinsen, und die schwermütige Stimmung nach den feierlichen Liedern hellte sich etwas auf.
Iversens Rede war ein munterer Abschied von dem Mann, mit dem er die letzten 40 Jahre seines Lebens verbracht hatte, gewürzt mit Anekdoten aus ihrer Freundschaft und Rezitationen aus den mitgebrachten Büchern. Genau wie damals, als er dem kleinen Jon Geschichten vorgelesen hatte, gelang es Iversen, sein Publikum mit der Lesung eines Textes aus der Göttlichen Komödie zu fesseln, einem von Lucas Lieblingsbüchern. Danach folgte ein Auszug aus den großen Klassikern, die sicher alle Anwesenden auswendig kannten. Obgleich Jon die Werke selbst nie gelesen hatte, sprach ihn Iversens Auslegung an. In seinem Kopf entstanden stimmungsvolle Bilder, genau wie damals, wenn er auf dem Ledersessel im Libri di Luca auf Iversens Schoß saß und den Geschichten von Cowboys, Rittern und Weltraumhelden lauschte. Schloss er die Augen, glaubte er fast den Staub des Antiquariats riechen und die Stille hören zu können, die nirgendwo so klang wie zwischen den Regalen des Ladens.
Als Iversen mit seiner Rede fertig war, begannen einzelne Trauergäste spontan zu klatschen, bis ihnen bewusst wurde, wo sie sich befanden. Der Priester trat erneut ans Rednerpult und bestand darauf, das letzte Lied zu singen, ehe alle von dem Verstorbenen Abschied nahmen. Jon folgte dem Text im Liederbuch, sang aber im Gegensatz zum ungeniert mitbrummenden Iversen nicht mit. Einen Moment lang fragte sich Jon, ob er ein schlechtes Gewissen haben sollte, weil er nicht wirklich bei der Sache war, doch dann schüttelte er das Gefühl ab und blickte zur Decke. Sicher gab es hier Leute, die sich über ihn wunderten oder ihn für arrogant hielten, aber das war ihr Problem. Was wussten sie schon? Für ihn ging es darum, das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und wieder an die frische Luft zu kommen.
Nach Ende des Liedes war Jon einer der Ersten, der sich erhob.
Draußen fanden die Trauergäste sich in Grüppchen zusammen. Jon blieb in Iversens Nähe, denn er kannte sonst niemand. Rasch gesellten sich andere hinzu, die Iversen für seine Rede dankten und Jon ihr Beileid bekundeten. Anscheinend wussten alle, wer er war. Trotzdem fühlte er eine gewisse Verwunderung bei den Menschen, die er begrüßte, als hätte niemand mit seinem Erscheinen gerechnet.
»Sie gleichen ihm wie ein Ei dem anderen«, stellte ein Mann mittleren Alters fest, der in einem Rollstuhl saß. Er stellte sich als William Kortmann vor, und Jon bemerkte, dass der Rollstuhl, in dem der Mann saß, vollständig schwarz war, selbst die Speichen der Räder. »Seltsam, dass er nichts erzählt hat«, fuhr Kortmann fort, verstummte aber sofort, als er Jons verwunderten Gesichtsausdruck bemerkte. »Na, jetzt müssen wir aber weiter«, sagte er. Es war, als könnte der dunkel gekleidete Mann, der etwas abseits stand, Gedanken lesen, denn er drehte sich um und kam auf sie zu.
»Aber wir werden uns wiedersehen«, verkündete der Mann
im
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