Die Bibliothek der Schatten Roman
Schulter.
»Es tut mir leid, aber im Moment kann ich nicht mehr sagen, Jon. Das ist nicht allein meine Entscheidung, verstehst du?«
Jon musterte den Mann von Kopf bis Fuß. Der Ausdruck der blauen Augen, die ihn durch die viereckige Brille ansahen, war gleichermaßen ernst und mitfühlend. Jon zuckte mit den Schultern.
»Ist in Ordnung, Iversen. Was immer ihr gemacht habt, das hat wohl noch etwas Zeit. Außerdem ist es ja nicht gerade passend, auf einer Beerdigung über das Erbe zu diskutieren.«
Iversen nickte erleichtert und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
»Du hast natürlich Recht. Ich wollte mich bloß vergewissern, dass du dir darüber bewusst bist, dass da noch etwas nachkommt. Treffen wir uns doch in den nächsten Tagen im Geschäft. Dann können wir das alles klären.«
Sie hatten die Kreuzung zwischen der Nørrebrogade und dem Kapelvej erreicht, und Iversen wollte zur Kapelle zurückgehen. Doch Jon blieb stehen und deutete auf eine Bar auf der anderen Straßenseite.
»Ich genehmige mir ein Glas. Kommst du mit?«, fragte er. »Gehört sich das nicht bei so einer Beerdigung?«
»Nein danke«, antwortete Iversen. »Wir halten noch ein kleines Treffen im Geschäft ab. Du bist natürlich auch willkommen.«
Jon schüttelte den Kopf.
»Nein danke. Dann bis bald, Iversen.«
Sie reichten sich die Hände, und Jon lief über die Straße in die Bar.
Es war erst zwei Uhr nachmittags, doch im Lokal war die Luft bereits stickig und verraucht. Die Stammgäste, die sich wahrscheinlich schon vor Stunden eingefunden hatten, verschmolzen geradezu symbiotisch mit den Barhockern. Sie sahen zu ihm herüber, kamen aber wohl zu dem Schluss, dass er uninteressant war, woraufhin sie sich wieder ihren Biergläsern widmeten.
Jon bestellte ein Pils und setzte sich an einen massiven Holztisch, der von verschüttetem Bier nur so klebte und vom diffusen Licht einer Kupferlampe erhellt wurde, die irgendwo über den Rauchwolken befestigt sein musste. An dem Tisch gegenüber saß ein blasser, hagerer Mann mit Hakennase und
strähnigen Haaren. Seine Jacke war an den Ellenbogen geflickt, und das Hemd, das darunter zum Vorschein kam, war zerknittert und alles andere als sauber. Vor ihm stand eine Flasche Bier.
Jon nickte dem Mann kurz zu und nahm die Remer-Akte aus seiner Tasche, um nicht den Anschein zu erwecken, er wolle sich unterhalten. Während er sein Bier trank, studierte er den anonymen Ringhefter. Vor drei Tagen hatte Halbech ihm den Fall offiziell übertragen. Der Seniorpartner musste wissen, welche Gerüchte sich um diesen Fall rankten, hatte sich aber nichts anmerken lassen, sondern ihm die Dokumente ganz beiläufig übergeben, als handelte es sich dabei um einen Fahrraddiebstahl oder einen Nachbarschaftsstreit. Die eigentliche Übergabe hatte darin bestanden, dass Halbech ihm einen Schlüsselbund mit einem Brillenschlumpf-Anhänger hingeworfen hatte, der ihm Zugang zu dem separaten Bürotrakt verschaffte, in dem die zahlreichen Archivschränke warteten. Einen Überblick musste er sich selbst verschaffen. Ansonsten hatte sich Halbech mehr dafür interessiert, welche Professoren er in seinem Studium gehabt hatte und inwieweit der Tod seines Vaters seine Arbeit beeinflussen würde.
Jon hatte ihm versichert, Lucas Tod sei ohne Bedeutung für seinen Arbeitseinsatz.
Er öffnete die Mappe und überflog die ersten Seiten, bei denen es sich um einen Versuch seines Vorgängers handelte, die Fakten des Falls zusammenzufassen. Jon wusste aber, dass er nicht umhinkam, sich selbst durch die mehrere 1000 Seiten umfassenden Akten zu ackern, die der Brillenschlumpf bewachte.
Er hatte gerade begonnen, die Gerichtsprotokolle und Verhöre zu lesen, als der Mann gegenüber zunehmend unruhig wurde und unzufrieden zu grunzen begann. Jon schaute hoch, und ihre Blicke begegneten sich. Es war offensichtlich nicht das erste Bier, das der Mann sich genehmigte; seine Augen waren blutunterlaufen und verschleiert.
Jon sah weg, nahm einen Schluck Pils und las weiter.
»Sagen Sie mal, halten Sie das hier für einen Lesesaal?«
Er sah überrascht zu dem Mann hinüber, dessen krummer Zeigefinger keinen Zweifel daran ließ, dass er ihn meinte.
»Ich habe gefragt, ob Sie das hier für einen Lesesaal halten?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Jon entgeistert. »Aber ich störe doch wohl niemand, solange ich nicht laut lese, oder?« Er lächelte freundlich.
»Doch, genau das tun Sie!«, rief der Mann und klopfte mit seinem
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