Die Bibliothek der Schatten Roman
Zeigefinger auf den Tisch. »Lesen kann sehr störend sein, ja, richtiggehend gefährlich!« Er wollte von seinem Bier trinken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Und nicht nur für den, der liest, sondern für alle, die sich in seiner Nähe befinden … Mit Passivlesen ist nicht zu spaßen!«
Der Mann trank endlich einen Schluck, und Jon folgte seinem Beispiel, da er nicht wusste, was er entgegnen sollte.
»Stellen Sie sich mal vor, wie es wäre, wenn alle um Sie herum hemmungslos lesen würden«, fuhr der Mann fort, nachdem er seine Flasche abgestellt hatte. »Die ganzen Worte und Sätze würden wie Schneeflocken in einem Sturm durch die Luft wirbeln.« Der Mann hob die Hände vors Gesicht und fuchtelte herum. »Sie würden sich mischen, zu unverständlichen Phrasen verhaken, sich aufteilen, um sich dann wieder zu ganz neuen Worten und Abschnitten zu vereinen, die Sie in den Wahnsinn treiben, wenn Sie etwas zu verstehen versuchen oder Sinn in etwas finden wollen, das keinen Sinn mehr macht.«
»So was habe ich noch nie erlebt«, versuchte Jon vorsichtig.
»Hah«, platzte der Mann hervor. »Aber nur, weil Sie nicht richtig hinhören, wirklich zuhören, meine ich! Aber wenn Sie einmal gelernt haben zuzuhören, sind Sie verloren. Dann müssen Sie bis ans Ende Ihrer Tage mit den Stimmen der Bücher leben, ob Sie es wollen oder nicht. Sie haben keine Wahl.
Die schönsten Gedichte, die besten Romane oder irgendein Scheiß, den Sie gerade lesen, drängen heraus und verpesten die Luft um Sie herum.« Der Mann schnaubte und trank noch einen Schluck Bier.
Jon deutete auf seine Mappe.
»Wollen Sie mir damit sagen, dass dieser Text gerade zu Ihnen spricht?«
Der Mann lachte nachsichtig.
»Texte ohne Leser sagen nichts. Es braucht immer jemand, der liest, aber dann geht es wahrhaftig los. Ja, dann singen, flüstern und brüllen sie.« Er beugte sich mit einem Ruck über den Tisch, so dass die Flasche beinahe umfiel. »Stellen Sie sich einen Lesesaal vor«, sagte er und machte eine Pause, damit Jon das Bild auch deutlich vor Augen hatte. »Das Heulen eines ganzen Chores kann da losbrechen. Das ist fürchterlich.« Er ließ sich gegen die Rückenlehne fallen und starrte Jon mit roten Augen an.
»Und hier hören Sie keine Stimmen?«, fragte Jon.
Der Mann ignorierte den Sarkasmus und breitete die Arme aus.
»Das ist meine Freistatt hier. Hier wird nicht so viel gelesen, verstehen Sie?« Er nahm sein Bier und deutete mit dem Flaschenhals auf Jon. »Bis Sie gekommen sind, natürlich«, fügte er hinzu, bevor er die Flasche an die Lippen setzte.
»Das tut mir leid«, sagte Jon.
»Ach, Sie verstehen doch gar nichts«, grunzte der Mann und stand auf, die Flasche noch immer in der Hand. »Was Sie auch lesen.« Er schwankte etwas, bevor er seinen Körper in Bewegung setzen konnte. »Ich gehe jetzt.«
Als er an Jon vorbei zum Tresen torkelte, sagte er kaum hörbar: »Ihr Vater hat das verstanden.«
Verblüfft blickte Jon dem Mann nach, der seine Flasche laut auf den Tresen knallte und dann nach draußen taumelte.
VIER
N achdem er 15 Jahre nicht dort gewesen war, entschloss sich Jon, bereits am Tag nach der Beerdigung das Libri di Luca aufzusuchen. Er war im Laufe der Jahre mehrmals vorbeigefahren, und das Geschäft schien immer geöffnet zu haben, sogar am späten Abend. Manchmal hatte er Luca hinter den Schaufenstern erkennen können, wenn er geschäftig hinter der Kasse zugange war oder ein paar Bücher in der Auslage drapierte.
Die Glocke über der Tür war ohne Zweifel noch die gleiche wie bei seinem letzten Besuch und hieß ihn mit ihrem Klingeln wie ein entferntes Familienmitglied willkommen. Es waren keine Kunden im Laden, aber trotzdem wurde er von alten Bekannten empfangen: den langen Regalreihen, dem Kronleuchter unter der Decke, dem Licht der Vitrinen auf der Galerie und der alten, versilberten Kasse auf dem Ladentisch. Jon stand still und sog den Duft ein. Er konnte ein Lächeln nicht zurückhalten.
Vor dem Tod seiner Mutter war der Laden sein Lieblingsplatz gewesen. Wenn Luca und Iversen zu viel zu tun hatten, um ihm vorzulesen, war er auf Entdeckungsreise im Laden gegangen und hatte die Geschichten erlebt, die zwischen den Buchdeckeln verborgen lagen. So wurde aus der Treppe ein Berg, den er besteigen musste, die Regale verwandelten sich in die Wolkenkratzer irgendeiner futuristischen Stadt und die Galerie in die Brücke eines Seeräuberschiffs.
Aber am besten erinnerte er sich jedoch an die
Weitere Kostenlose Bücher