Die Bibliothek der Schatten Roman
Archiv, und den Anwälten, die sich bisher der Sache angenommen hatten, war im Büro ein eigener Remer-Trakt zugewiesen worden, in dem sie ungestört arbeiten konnten. Es war einer dieser »make or break«-Fälle, doch waren bisher alle Anwälte gescheitert, die sich daran versucht hatten. Andererseits würde ein erfolgreicher Abschluss des Falles mit Sicherheit das Angebot einer vollen Partnerschaft mit sich bringen. Das ging jedenfalls aus den Gerüchten hervor, die unter den Anwälten kursierten.
Dabei waren die Papiermenge und die Komplexität des Remer-Falls jedoch nicht die einzige Herausforderung. Der Mann selbst, Otto Remer, war eine wahre Prüfung. Mehr als ein Kollege hatte die Zusammenarbeit mit ihm eingestellt, da er sich weder um Anwälte kümmerte noch bereit war, die Unterlagen zu seinen Transaktionen herauszurücken. Er verhielt sich, als würde er den Ernst der Lage nicht begreifen, und scheute sich nicht, in den kritischsten Phasen des Prozesses in Skiferien oder auf Geschäftsreise zu gehen.
Die Luft war nach dem Regen noch immer kühl und feucht, und Jon fröstelte in seiner dünnen Jacke. Zwei Männer verließen im bloßen Hemd das Gebäude, um zu rauchen. Sie zündeten ihre Zigaretten an, sogen den Rauch gierig in die Lungen und traten auf der Stelle, um sich warm zu halten.
Ein Handy klingelte, und Jon griff reflexartig in seine Innentasche. Zwar hatte gar nicht sein Telefon geklingelt, doch als er es in der Hand hielt, bemerkte er, dass er im Laufe des Vormittages drei Anrufe von der gleichen Nummer erhalten hatte. Ohne einen Blick auf das Display zu werfen, wählte er seine Mailbox an.
Mit wachsender Verwunderung hörte er die Nachricht, die man ihm hinterlassen hatte. Sie stammte von einem Kriminalkommissar Olsen, der ihm in geschäftsmäßigem Ton mitteilte, er riefe wegen Jons Vater Luca Campelli an. Jon zog die Augenbrauen hoch. Er war es zwar gewohnt, von der Polizei
angerufen zu werden, sah aber keinen Zusammenhang mit seinem Vater.
Bevor er zurückrufen konnte, trat ein Gerichtsdiener aus der Tür und rief ihn. Die Richter waren zu einem Urteil gekommen.
Vor einem Gerichtssaal, der nun nur noch zur Hälfte gefüllt war, erklärten die Richter, was bereits alle wussten, dass es nämlich keine wirklichen Beweise gegen Muhammed gab und die Anklage deshalb fallen gelassen werden musste. Die wenigen Freunde von Muhammed, die noch im Saal waren, jubelten, und der Freigesprochene selbst schüttelte Jon kräftig die Hand.
»Gut gemacht, Lawman«, sagte er zufrieden.
Jon erwiderte sein Lächeln und nickte in Richtung der johlenden Zuschauer.
»Fahren Sie mit mir zurück oder feiern Sie jetzt erstmal mit Ihrem Fanclub?«
»Wenn Sie ohnehin fahren, würde ich gerne mitkommen«, bat sein Mandant. »Die Arbeit wartet.«
Jon begann, seine Unterlagen zusammenzusuchen. Kollegen und Bekannte kamen, um ihm zu dem gewonnenen Prozess zu gratulieren, und er musste gleich mehrere Frühstückseinladungen ablehnen. Normalerweise war er es, der nach einem Sieg zum Essen einlud, aber an diesem Tag hatte er die Energie nicht mehr. Das seltsame Erlebnis mit dem Seniorpartner beschäftigte ihn zu sehr, um jetzt ans Feiern zu denken.
Vielleicht spürte auch Muhammed diese Stimmung. »Hey, wir haben gewonnen!«, rief er, als sie im Auto saßen, und stieß Jon von der Seite an.
»Ja, entschuldigen Sie«, sagte Jon lächelnd. »Ich bin einfach ein bisschen müde.«
Muhammed gab sich mit Jons Erklärung zufrieden und
begann von der Schadensersatzklage zu reden. Er überlegte, wie viel Geld sie für seine aufgeplatzte Augenbraue verlangen sollten und ob er auch für den Schaden entschädigt werden könnte, den sein Ruf im Viertel genommen hatte.
Jon gab nur knappe Antworten, während er nach Nørrebro fuhr. Als sie fast am Ziel waren, klingelte sein Handy. Jon hängte sich die Freisprecheinrichtung um und nahm den Anruf entgegen. Am anderen Ende meldete sich ein Kommissar Olsen und erklärte ihm sein Anliegen. Jon lauschte der monotonen Stimme des Mannes und antwortete einsilbig, um wenigstens zu signalisieren, dass er noch am Apparat war.
Als das Gespräch beendet war, nahm er das Headset ab und seufzte tief.
»Noch ein Fan?«, fragte Muhammed und sah ihn an.
Jon schüttelte den Kopf.
»Kann man nicht gerade sagen. Mein Vater ist tot.«
DREI
L uca sollte auf dem altehrwürdigen Friedhof Assistentens Kirkegård beigesetzt werden. Inmitten der großen dänischen Dichter, zwischen denen er sein
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