Die Bibliothek der Schatten Roman
Chance.
Patrick Vedel blieb stehen, als er das Buch in Jons Händen sah.
»Ganz ruhig«, sagte er und streckte in einer beschwichtigenden Geste die Handflächen vor. »Es gibt keinen Grund…«
Jons Mut sank, als er die ersten Worte las.
Das Buch war auf Italienisch.
Jon knirschte mit den Zähnen. Das konnte nicht wahr sein. Nicht hier, nicht jetzt.
Patrick Vedels Gesichtsausdruck wechselte von Nervosität zu Erleichterung.
»Kein Buch nach Ihrem Geschmack?«, fragte er lachend.
Jon wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Text zu. Er konnte schließlich Italienisch. Es war lange her, dass er das letzte Mal etwas auf Italienisch gelesen hatte, und er war unsicher, ob er die Sprache gut genug beherrschte, um sich zu schützen, aber er musste es zumindest versuchen.
Patrick Vedel packte Jon am Kragen seines Umhangs und schleifte ihn ein Stück über den Boden.
Jon konzentrierte sich auf das Buch und stammelte sich durch die ersten Zeilen. Er schwitzte. Seine Hände zitterten vor Nervosität. Der erste Satz kam ihm völlig sinnlos vor. Es
fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, aber er zwang sich weiterzulesen.
Patrick Vedel lachte und zog ihn weiter zum Geländer. Wort für Wort stotterte Jon sich durch den zweiten Satz. Und plötzlich ging ihm auf, dass er den Text kannte. Er hatte den Satz, den er gerade gelesen hatte, wiedererkannt und wusste genau, wie der nächste lautete.
Er hatte das Buch schon einmal gelesen.
ZWEIUNDVIERZIG
J on konnte nicht sagen, wie oft Luca ihm Pinocchio vorgelesen hatte.
Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass er schon vor Jons Geburt damit begonnen hatte. Luca hatte ihr und dem ungeborenen Kind fast jeden Abend etwas vorgelesen. Sie hatten den wachsenden Bauch mit dem Wal in der Geschichte verglichen und so gelacht, dass Luca nicht mehr weiterlesen konnte. In den ersten Jahren war das die Geschichte, die Jon am liebsten hörte. Er bekam sie niemals satt und lag seinen Eltern Abend für Abend in den Ohren, ihm noch ein einziges Kapitel vorzulesen. Meist gaben sie nach. Besonders seine Mutter. Sie liebte die Geschichte und spielte die verschiedenen Rollen einfühlsam und mit verschiedenen Stimmen, die Jon niemals vergessen würde.
Es war ein magisches Buch, in einer magischen Sprache, die nur er und seine Eltern sprachen. So jedenfalls hatte er es empfunden. Er liebte den Klang der Worte und hatte bald ganze Passagen auswendig gelernt. Oft prüfte Luca ihn, indem er unvermittelt einen Satz begann, den Jon zu Ende brachte, egal, ob sie im Bus unterwegs waren, beim Metzger in der Schlange standen oder zu Hause am Esstisch saßen. Seine Mutter schüttelte den Kopf, aber das machte nichts. Das war ihr Spiel, das Jon begeistert spielte.
Noch besser als die Worte waren die Bilder, die sie hervorriefen. Jon kannte jeden Stein und jeden Grashalm in der Geschichte. Er war unzählige Male durch die Landschaften spaziert und wusste exakt, wie die Häuser aussahen. Er kannte
jede Krümmung der Äste an den Bäumen und die Gesichtszüge und die Mimik jeder einzelnen Figur. Es gab keinen Zweifel über die Bewegung der Wellen, die Größe des Bootes oder die Farbe des Wals.
Jon hatte sich die Bilder so oft vorgestellt, dass sie ihn nun, als er zu lesen begann, fast ansprangen. Der Lesesaal in Alexandria verschwand schlagartig und wurde von den sanften Farbabstufungen der Geschichte und den weichen Formen der Landschaft ersetzt. Er brauchte sich überhaupt nicht anzustrengen. Es war ganz anders als bei den anderen Séancen, bei denen er wirklich hart arbeiten musste, um die Bilder am Leben zu halten. Hier lief es ganz von allein, und er konnte das Lesen richtig genießen. Der Schmerz in seinem Fuß war wie weggeblasen, und Remer war ihm egal. Er spürte eine Zuversicht wie schon seit Jahren nicht mehr, dass alles gut werden würde.
Jon machte sich klar, dass die Bilder, die er erschuf, in Wirklichkeit nicht seine eigenen waren. Wahrscheinlich hatte Luca sie beim Lesen an ihn weitergegeben. Wenn er tatsächlich so ein guter Lettore war, wie alle behaupteten, lag es auf der Hand, dass er seinem Kind das beste Leseerlebnis bescheren wollte, das er hervorrufen konnte. Dass er damit seinem Sohn einmal das Leben retten würde, hatte er damals sicher nicht voraussehen können, trotzdem konnte Jon sich nicht vorstellen, dass das ein Zufall war. Wieso fiel ihm ausgerechnet dieses Buch in die Hände, und das hier, in dieser völlig unwirklichen Situation, in der er es am dringendsten brauchte?
Jon
Weitere Kostenlose Bücher