Die Bibliothek der Schatten Roman
kämpfte, die Kontrolle zurückzugewinnen. Es war ein aussichtsloser Kampf, da es viel zu viele gegenläufige Energieströme gab und er von keinem Empfänger mehr unterstützt wurde. Trotzdem weigerte er sich aufzugeben. Flammen züngelten über seinen Körper, und aus seinem Ohr tropfte Blut, das ihm über den Hals in den Ausschnitt des Umhangs floss, der sich langsam rot färbte. Er las weiter mit zusammengebissenen Zähnen. Sein Gesicht war blass und schmerzverzerrt. Jetzt blutete er auch aus beiden Nasenlöchern.
Selbst aus der Distanz konnten sie sein Keuchen hören. Plötzlich gab es einen lauten Knall, und Katherina wurde von einem kurzen Blitz geblendet. Danach war es vollkommen still in der Bibliothek. Das Knistern der Flammen war verstummt. Keiner las mehr. Die fünf übrig gebliebenen Lettori standen noch einen Augenblick aufrecht da, ehe die Schwerkraft siegte und sie umwarf.
Jon tat alles weh, und er war unendlich müde. Beim Versuch, sich aufzusetzen, schoss ihm ein stechender Schmerz aus dem Fuß durchs Bein, und er stöhnte laut, Katherina kniete neben ihm und sah ihm in die Augen. Sie lachte und weinte abwechselnd, und die Tränen zeichneten schmale Streifen in ihr dreckverschmiertes Gesicht.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er angestrengt.
Katherina nickte und küsste ihn auf die Stirn. Er hob die
Hand und wischte ihr eine Träne von der Wange, dann presste sie ihr Gesicht an seinen Hals. Er legte einen Arm um sie und drückte sie an sich.
Erst jetzt entdeckte Jon Muhammed, der etwas entfernt von ihnen stand. Er hatte die Hände in die Seite gestemmt und sah sich kopfschüttelnd und vor sich hin murmelnd um.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Jon. »Machen Sie Urlaub?«
Muhammed lachte und gesellte sich zu ihnen.
»So was in der Art. Dachte mir, dass ich hier bestimmt ein Buch für den Strand finde.«
Katherina und Jon konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Jon konnte sich nur mit Katherinas Hilfe aufsetzen, ihm tat jeder einzelne Knochen weh.
»Ich glaube, ich hab mir den Fuß gebrochen«, meinte er.
»Ja, Meister, das sieht nicht gut aus«, sagte Muhammed. »Wir werden Sie raustragen müssen.«
Katherina nickte und versuchte sich die Tränen wegzuwischen.
»Was ist mit Henning?«, fragte Jon.
Muhammed schüttelte den Kopf.
»Er hat es nicht geschafft.«
Die Wut verlieh Jon so viel Kraft, dass er sich mit Hilfe der anderen aufrichten konnte.
»Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen«, sagte er. »Hier können wir nichts mehr ausrichten.«
Muhammed und Katherina nahmen Jon links und rechts unter den Arm und verließen schweigend die Bibliotheca Alexandrina.
DREIUNDVIERZIG
E s war ein merkwürdiges Gefühl für Jon, ohne jede Erinnerung an die Herreise nach Hause zurückzukehren. Den Flug nach Ägypten hatte er in Narkose verbracht, so dass es ihm vorkam, als wäre sein Ortssinn in Dänemark geblieben, ohne jede Chance, ihn je einzuholen.
Die Ereignisse in der Bibliothek waren auch nicht richtig in sein Bewusstsein vorgedrungen, und je mehr Zeit verging, desto unwirklicher erschien ihm das Ganze. Er erinnerte sich an alles, doch hatte er das Gefühl, es handle sich um die Erlebnisse eines anderen. Die Dinge, die er nicht selbst erlebt oder mitbekommen hatte, erzählte ihm Katherina, was sie nicht weniger unglaublich machte. Jedes Mal, wenn er daran dachte, was die drei aufs Spiel gesetzt hatten, um ihn zu befreien, überkam ihn unendliche Dankbarkeit. Sie hatten ein Wahnsinnsglück gehabt, und umso mehr schmerzte ihn, dass Henning, dem er sein Leben verdankte, an diesem Glück nicht teilgehabt hatte und sie seinen Leichnam in der Bibliothek hatten zurücklassen müssen. Immer wieder versicherten sie sich gegenseitig, dass sie keine andere Wahl gehabt hatten.
Laut Medienberichten war ein Blitz in die Bibliothek eingeschlagen und hatte einen kleineren Brand verursacht. Verletzte oder Tote wurden nicht erwähnt. Ganz offensichtlich befanden sich noch immer genügend Mitglieder der Schattenorganisation in der Stadt, die kontrollierten, was an die Öffentlichkeit gelangte und was nicht. Nicht einmal Nessim, der Portier mit den hervorragenden Kontakten, konnte mehr herausfinden.
Katherina, Muhammed und Jon hielten sich ein paar Tage bedeckt und beschlossen gemeinsam, dass genug Blut geflossen war. Die Schattenorganisation hatte einen tödlichen Stoß erhalten. Nur die stärksten Lettori waren in der Lage gewesen, in den inneren Raum der Geschichte zu treten, doch sie
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