Die Bibliothek der verlorenen Bücher
in England zurückgelassenen Kinder gekämpft hatte, ließ sie sich mit Tighe in Pisa nieder, wo sie zwei Töchter zur Welt brachte und unter anderem einen Ratgeber für junge Mütter verfasste.
Mary Shelley, die die ungewöhnliche Familie wäh
rend ihres langen Italien-Aufenthaltes kennenlernte, war Laurette, der elfjährigen Tochter von Mrs. Mason, besonders zugetan und schenkte ihr zum Geburtstag die schon bald verschollene und so viele Jahre später erst wiedergefundene Erzählung »Maurice, or the Fisher’s Cot«. Es ist die anrührende Geschichte eines Vaters, der seinen vor langer Zeit entführten Sohn sucht, und eines Waisenknaben, der bei einem alten, einsamen Fischer ein neues Zuhause findet. Nach dem Tod des Fischers treffen die beiden zufällig zusammen und erzählen einander ihr Schicksal. Aus Rückblenden und Erinnerungen entsteht allmählich ein komplettes Bild des Entführungsfalles und die Hoffnung auf ein neues Leben. Mary schickte
1820 eine Abschrift des Manuskripts an Godwin in London, der wegen der Kürze des Textes von einer Veröffentlichung abriet. Dabei ist jene melancholische und packende Erzählung sicherlich eine der schönsten Mary Shelleys.
Nach dem tragischen Tod ihres Mannes, der 1822 im Golf von Spezia ertrank, kehrte Mary Shelley nach England zurück. Ihr Roman »Frankenstein«, der 1818 erschien, war inzwischen in aller Munde, und eine spektakuläre Bühnenversion sorgte für die wachsende Popularität dieser wundersamen und erschreckenden Geschichte. Ihr größter Erfolg neben »Frankenstein« war ein Buch, das heute so gut wie vergessen ist: »Lodore«. Diesen Roman hätte man beinahe zu all den namenlosen Texten zählen müssen, die in Redakti onsstuben und Verlagsbüros verlorengingen, nur dass in diesem Fall lediglich die letzten 36 Seiten des dritten Teils verschwanden. Mary Shelley wunderte sich wochenlang über das Schweigen ihres Verlegers Richard Bentley, der das Manuskript verzweifelt suchte und seine Veröffentlichung immer weiter hinauszögerte. Als die Angelegenheit schließlich offenbar wurde, blieb der Autorin nichts anderes übrig, als den fehlenden Teil neu zu schreiben.
»Lodore« erschien 1835 und ist ein im Stil der »silver-fork-novels« oder »Moderomane« geschriebenes Werk. Es handelt von einer jungen Frau, die bei ihrem Vater in der amerikanischen Wildnis aufwächst und nach dessen Tod in die vornehme Londoner Gesellschaft eingeführt wird. Ein dunkles Familiengeheimnis und die Intrigen der High Society sorgen für Spannung. Der eigentliche Erfolg der Moderomane am Beginn des Viktorianischen Zeitalters gründete jedoch weniger auf den spannenden Geschichten als auf der realistischen Darstellung gesellschaftlicher Umgangsformen. Das aufstrebende Bürgertum lernte bei Mary Shelley und in den thematisch verwandten Romanen von Edward Bulwer und Benjamin Disraeli die Welt der Salons und Ballsäle, der exklusiven Clubs, Restaurants, aber auch der Spielhöllen und Pferderennbahnen kennen und erfuhr, wie sich die wahre Lady und der Gentleman zu verhalten und zu kleiden hatten.
»Lodore« und der nachfolgende, noch gelungenere Roman »Falkner« sind sehr weit von dem entfernt, was Leser von der Autorin des »Frankenstein« ge wöhnlich erwarten. Vielleicht sind die Werke aus diesem Grund in Vergessenheit geraten. Vielleicht aber auch, weil die Welt, die in Mary Shelleys Spätwerk beschrieben wird, uns mit all ihren rätselhaften Zwängen und Konflikten inzwischen fremder geworden ist als das unheimliche Labor des Victor Frankenstein.
So unbekannt wie ihr literarisches Spätwerk sind die wissenschaftlichen Arbeiten Mary Shelleys, ihre Kurzbiographien namhafter europäischer Künstler und Wissenschaftler, die ihr selbst bedeutender erschienen als ihre Romane und Erzählungen. Tatsächlich hätte sie auf diesem Gebiet noch wesentlich mehr veröffentlichen wollen, doch mussten zahllose geplante Bücher ungeschrieben bleiben – nicht weil es an Lebenszeit und Befähigung fehlte, sondern weil es an Förderung, Bestätigung und lukrativen Verlagsverträgen mangelte. Mary Shelley, die mit ihrer schriftstellerischen Arbeit die knapp bemessenen Zuwendungen ihres Schwiegervaters aufzubessern versuchte – der mit Streichung der Zuwendung drohte, sobald er von einer neuen Veröffentlichung seiner Schwiegertochter erfuhr –, schickte John Murray, jenem Verleger, der Byrons Memoiren verbrannt hatte, hartnäckig neue Vorschläge für Bücher, die
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