Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Vorfall.
Percy B. Shelley erkannte die Begabung seiner künftigen Ehefrau, die als Mary Shelley, Autorin des »Frankenstein«, berühmt werden sollte. Er förderte sie, so gut er konnte, und ermunterte sie unablässig zum Schreiben. Er selbst war seit seiner Kindheit von Literatur und phantastischen Einfällen durchdrungen. Schon als Schüler hatte er Gedichte, Pamphlete und ganze Bücher geschrieben und veröffentlicht. Der für sein Aufbegehren gegen Kirche und Staat und seine anarchistischen und atheistischen Überzeugungen geschmähte Shelley war auch ein begeisterter Leser von Schauerromanen. Früh versuchte er seinen Idolen Charlotte Dacre und Charles Brockden Brown nachzueifern. Shelleys Cousin Thomas Medwin erinnerte sich später, man habe im "Winter 1809/10 gemeinsam an einer »wilden und außergewöhnlichen Abenteuergeschichte« gearbeitet, die nicht veröffentlicht wurde und verlorenging. Es ist denkbar, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass es sich hierbei um eines der beiden frühen Werke Shelleys handelte: »Zastrozzi« und »St. Irvyne«.
Der Roman »Zastrozzi«, der 1810 erschien, als Shelley noch die Schulbank in Eton drückte, ist eine etwas morbide Geschichte über die Intrigen eines atheistischen Schurken. Erst auf der letzten Seite wird sein Geheimnis gelüftet: Zastrozzi hatte seiner Mutter am Totenbett geschworen, an ihrem treulosen Liebhaber und dessen Familie Rache zu üben.
Shelleys zweite »gothic novel«, »St. Irvyne; or, the Rosicrucian«, ist ein reichlich bizarrer Roman, der seine Vorliebe für alchimistische Geheimnisse dokumentiert: Ein junger, von seiner Familie verstoßener Adliger namens Wolfstein schließt sich einer Räuberbande an und begeht einer schönen Frau zuliebe allerlei Morde. Er trifft den Alchimisten Ginotti, der von der Idee des ewigen Lebens besessen ist und einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat: Dieser will ihm die Unsterblichkeit gewähren, wenn er Wolfstein dazu bringt, die Existenz Gottes zu leugnen. Die Geschichte erinnert ein klein wenig an Mary Shelleys »Frankenstein«. Das Monster, das Ginotti im Traum erscheint, kann durchaus als Vorbild für die traurige, aus Leichenteilen zusammengebastelte Kreatur Victor Frankensteins gelten.
Leider denken die meisten bei der Erwähnung Mary Shelleys immer nur an ihr berühmtestes Werk. Die Vielseitigkeit und das Talent dieser Autorin offenbart die rechtzeitig zu Shelleys 200. Geburtstag wiedergefundene Erzählung »Maurice or the Fisher’s Cot« (»Maurice oder die Fischerhütte«). Das lange Zeit verschollene Manuskript entdeckte Cristina Dazzi im November 1997 im Archiv ihrer Familie, als sie Material über den italienischen Dichter Leopardi suchte, der im Winter 1827 ihre Ururgroßmutter Margaret Mason in Pisa besucht hatte.
Margaret Mason, die mit ihrem Liebhaber George Tighe und den zwei unehelichen Töchtern Laurette und Nerina seit 1814 in Pisa lebte, freundete sich mit Mary und Percy Shelley an, nachdem diese aus gesundheitlichen, politischen und finanziellen Gründen England 1818 den Rücken gekehrt hatten und nach Italien gereist waren, wo man damals für relativ wenig Geld gut leben konnte. Mary Shelleys Mutter, die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, hatte Mrs. Mason in ihrer Jugend als Gouvernante betreut. Sie hatte ihrem Schützling einiges von ihren politischen und sozialen Überzeugungen, die sich gegen jede Form von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung wandten, und die entsprechende Einstellung zur Kindererziehung und Gleichberechtigung der Frau vermittelt. 1791 heiratete Margaret den Earl of Mountcashell, ohne ihre durch ihre Gouvernante ermutigten Kontakte zu den Revolutionären in England und Irland aufzugeben. In London lernte sie auch Mary Shelleys Vater, den Sozialphilosophen und Verlagsbuchhändler William Godwin, kennen, der eines ihrer Kinderbücher veröffentlichte. 1804 verließ sie ihren Mann, dem sie sieben Kinder geboren hatte. Sie hatte sich in den unprätentiösen Gelegenheitsdichter und Privatgelehrten George William Tighe verliebt, einen Freund Mountcashells. Während die Napoleonischen Kriege Schrecken, Zerstörung und Tod verbreiteten, reisten die Liebenden durch Europa und verbrachten einige Jahre in Deutschland, wo Mrs. Mason – wie sich Lady Mountcashell nach einer Romanfigur Mary Wollstonecrafts nun nannte –, als Mann verkleidet, Medizinvorlesungen an der Universität besuchte. Nachdem sie vergeblich um das Sorgerecht für ihre
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