Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
Vom Netzwerk:
Doch verliert sich diese Spur in den verwinkelten Gassen und verrufenen Hinterhöfen der Altstadt, wo rothaarige und stumpfnasige Zuhälter auf ihre Opfer lauern und magere, knabenhafte Mädchen mit kränklichem Antlitz ihren unzuträglichen Geschäften nachgehen. Der junge Mann aus gutem Hause, den eine ungewisse, unaussprechliche Sehnsucht auf die Straße treibt, verschwindet in einer schlechtbeleuchteten Seitengasse, und sein Schatten vermengt sich mit der Dunkelheit, die seine Schmach und Schuld vor der Nachwelt verbergen wird. Was Thomas Mann damals tatsächlich widerfuhr und ihn ein Leben lang beschäftigen sollte, muss der Phantasie der Leser und dem Scharfsinn der literaturwissenschaftlichen Detektive überlassen bleiben. Die Tagebücher von 1918 bis 1921, die Thomas
    Mann als Quelle für seinen »Doktor Faustus« dienten, blieben immerhin erhalten, ebenso wie jene vom März 1933 bis zum August 1955 – genug Material für mehr oder weniger aufschlussreiche Entdeckungsreisen durch ein Leben, dessen Geheimnisse und Abgründe zwischen den auskunftsfreudigen, manchmal geschwätzigen Zeilen verborgen liegen.
       Während Thomas Mann die riskanteren seiner privaten Aufzeichnungen sorgfältig vernichtete, entgingen seine literarischen Manuskripte und Entwürfe diesem Schicksal. Sein Sekretär berichtete, Thomas Mann habe seine Texte so gut wie nie überarbeitet oder als missratene Sprösslinge seiner Kunst verworfen. Doch es gibt einige große Werke, die er zwar als Idee verfolgt, aber nicht geschrieben hat. Diese ungeschriebenen Werke existieren als Œuvre des Schriftstellers Gustav Aschenbach, des Helden der morbiden Novelle »Der Tod in Venedig«: Die mächtige ProsaEpopöe vom Leben Friedrichs von Preußen, der Romanteppich »Maja«, eine Art Münchner Version der »Buddenbrooks«, der »vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee« versammelt, die Erzählungen »Die Geliebte« und »Ein Elender« sowie die leidenschaftliche Abhandlung über »Geist und Kunst« leben in der Welt Aschenbachs weiter und überdauern womöglich auch seinen Tod, so dass sich Thomas Mann nicht mehr mit dem niederdrückenden Gedanken plagen musste, diese Bücher selbst schreiben zu müssen.

    Kafkas Puppenspiel

    D ie Literatur war für ihn etwas Heiliges, Absolutes, Unantastbares, rein und groß«, schrieb Dora Diamant über Franz Kafka. Sie hatte ihn 1923 während der Sommerferien in Müritz an der Ostsee kennengelernt und war die fürsorgliche Gefährtin in den letzten Monaten seines Lebens. Sein Bild habe ihre Vorstellung vom Menschen erfüllt, erzählte sie später über ihre erste Begegnung: Die große, schlanke Gestalt mit dunkler Haut erinnerte sie zunächst an einen Halbindianer. Die weit geöffneten Augen hatten einen Ausdruck von Verwunderung und blitzten schalkhaft, während er sprach, so als wüsste er von Dingen, über die andere Menschen nichts wissen. Er war immer heiter, trotz seiner schweren Krankheit. Nur das Unglück anderer war ihm unerträglich.
       Während eines Spaziergangs im Steglitzer Park in Berlin trafen Kafka und Dora Diamant ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt war, weil es seine Puppe verloren hatte. Kafka erfand sofort eine Geschichte, um das Kind zu trösten. Er erzählte, die Puppe sei nur verreist und habe ihm einen Brief geschrieben. Als sich das Mädchen für den Brief interessierte, versprach Kafka, ihn am nächsten Tag mitzubringen. Die folgenden Tage und Wochen war er damit beschäftigt, immer neue Briefe zu verfassen, in denen die Puppe von ihren Abenteuern berichtete. Lange überlegte er, wie er die Geschichte zu einem glücklichen Ende führen könnte. Schließlich ließ er die Puppe heiraten, wovon sie stolz in einem letzten Abschiedsbrief erzählt.
       Kafkas Puppen-Briefe sind nicht erhalten – sie waren nur für eine einzige Leserin bestimmt, und dies entspricht durchaus seiner Einstellung zum eigenen Werk. Viele seiner Texte schienen Kafka so privat, dass er sie lieber zerstörte, als sie auch nur einem einzigen Menschen anzuvertrauen. Für ihn waren es »Gespenster«, die ihn heimsuchten, und um seine Seele von diesen Heimsuchungen zu befreien, wollte er am liebsten alles verbrennen, was er geschrieben hatte. Vor seiner Abreise aus Berlin half ihm Dora Diamant bei der Vernichtung einiger Manuskripte.
       Es ist erstaunlich, wie wenig Kafka von dem Wert seiner Schriften für die Nachwelt überzeugt war. Seinem Freund Max Brod hatte er aufgetragen,

Weitere Kostenlose Bücher