Die Bibliothek der verlorenen Bücher
sie gern für seine »Family Library« schreiben wollte: eine Biographie über Madame de Staël, das Leben des Propheten Mohammed, die Geschichte der englischen Literatur, die Eroberung Mexikos und Perus, das Leben der englischen Philosophen, die Lebensläufe berühmter Frauen, eine Geschichte des Rittertums sowie die Frühgeschichte der Erde und der Zeugnisse »vorsintflutlicher« Zivilisationen. Keines dieser anspruchsvollen Projekte sollte verwirklicht werden, auch wenn Murrays Sohn und Nachfolger, John Murray III., höflichkeitshalber an einzelnen Themen Interesse zeigte.
Doch selbst wenn all diese Bücher geschrieben und veröffentlicht worden wären, hätte dies wohl kaum etwas am heutigen Rang Mary Shelleys geändert: Sie bleibt auf ewig an ihren »Frankenstein« gekettet, während ihre anderen Werke langsam in tristen Bibliotheksregalen verstauben und in Vergessenheit geraten.
Thomas Manns Geheimnis
I n den Tagebüchern, die Thomas Mann der Nachwelt hinterlassen hat, erfährt der Leser allerlei interessante Details aus dem Alltagsleben des Schriftstellers. Wer an einem Übermaß an Neugier leidet, kann in zehn Folianten nachlesen, um wie viel Uhr der Autor des »Zauberbergs« und der »Buddenbrooks« seinen Hund spazieren führte, welche Zahncreme er benutzte und wie es um seine Verdauung bestellt war. Wer hingegen auf Indiskretionen, Skandale oder zumindest Anekdoten hofft, wird enttäuscht. Die wirklich spannenden Episoden aus seinem Leben hat Thomas Mann wohl in jenen Heften notiert, die er bei verschiedenen Gelegenheiten vorsorglich verbrannte.
Frühe Tagebuchaufzeichnungen vernichtete er bereits in jungen Jahren, 1896. Das vielleicht aufschlussreichste Material wurde freilich am 21. Juni 1944 und am 21. Mai 1945 im Garten seines kalifornischen Domizils Pacific Palisades in einen Ofen gestopft und verbrannt. Thomas Mann hatte Übung im Verbrennen von Tagebüchern, die er zwar zeit seines Lebens pedantisch führte und auch als Quelle für seine literarischen Werke nutzte, dann aber rigoros vernichtete, sobald ihm die angesammelten Kladden lästig wurden oder deren private Offenbarungen zu gefährlich erschienen.
Wie gefährlich die Aufzeichnungen für Thomas Mann hätten werden können, darüber spekuliert Michael Maar in seinem spannenden literaturwissenschaftlichen Essay »Das Blaubartzimmer«: Thomas Mann musste seine frühen, sorgsam aufbewahrten Tagebücher im Frühjahr 1933, nach der »Machtergreifung« der Nazis, in seinem Münchner Haus zurücklassen. Er befürchtete, das Material könne auf irgendeine Weise gegen ihn verwendet werden. So beauftragte er seinen Sohn Golo, der sich noch in Deutschland aufhielt, die in den Schubladen des alten Schreibtischs eingeschlossenen Hefte in einen Handkoffer zu pakken und nach Lugano zu schicken. Der Chauffeur, der den Koffer zum Bahnhof bringen sollte und dem die Familie Mann vertraute, entpuppte sich jedoch als Nazispitzel, der die politische Polizei auf die heiklen Papiere aufmerksam machte.
»Meine Befürchtungen gelten jetzt in erster Linie u. fast ausschließlich diesem Anschlage gegen die Geheimnisse meines Lebens. Sie sind schwer und tief. Furchtbares, ja Tötliches kann geschehen.« Die Tagebuchnotiz vom 30. April 1933 zeigt deutlich, wie stark der Vorfall Thomas Mann beunruhigte. Michael Maar meint, er habe sogar an Selbstmord gedacht, während er auf den Koffer wartete, der nach einigen angsterfüllten Tagen am 2. Mai schließlich doch noch eintraf. Die Polizei hatte ihn untersucht, war aber offenbar nur an Verträgen und Dokumenten interessiert, nicht an den handschriftlichen Notizen, die man für literarische Entwürfe hielt.
In »Das Blaubartzimmer« versucht Michael Maar nachzuweisen, dass die frühen Tagebücher ein dunkles Geheimnis enthielten, das in den Werken Thomas Manns eine deutliche Spur hinterlassen habe. Während die meisten Biographen davon ausgehen, dass es sich hierbei um eine homosexuelle Liebschaft gehandelt habe, glaubt Maar einen dunkelroten Faden aus verborgener Schuld, sexueller Gewalt und Obsession, sogar Mord aus Rache oder Leidenschaft in den Romanen und Erzählungen des Zauberers zu erkennen. Die Anzahl der gemeuchelten Hunde, der Lustmorde und der verzweifelten Schuldbekenntnisse, die er aufführt, ist in der Tat beeindruckend. Die blutige Spur führt zurück in den Winter 1896/97, als Thomas Mann in Neapel weilte – etwa in die Zeit, als er die »Buddenbrooks« zu planen begann.
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