Die Bibliothek der verlorenen Bücher
legendären Frauenhelden, dessen Abenteuer nur als Rahmen für Byrons spitzfedrigen Feldzug gegen die Heuchelei seiner Landsleute dienten. Außerdem schrieb er seine Memoiren, die wohl ebenfalls als Abrechnung mit den bigotten Zeitgenossen gedacht waren und vor deren Enthüllungen manch angesehene Persönlichkeit zitterte. Byron übergab das fertige Manuskript Ende des Jahres 1818 seinem Freund und späteren Biographen Thomas Moore, der es, als er knapp bei Kasse war, an den geschäftstüchtigen Verleger John Murray II. verkaufte. Dieser »ängstlichste aller Buchhändler Gottes« fürchtete sich ungemein vor dem Skandal, den die freimütigen Erinnerungen des Dichters auslösen könnten.
Einige Jahre später, am 17. Mai 1824, wenige Tage nachdem der Leichnam des in Griechenland gestorbenen, genauer: von seinen Ärzten zu Tode kurierten Dichters nach England überführt worden war, beriet sich Murray in seinen Geschäftsräumen in der Londoner Albemarle Street mit Thomas Moore, John Cam Hobhouse, seinem Sohn und den Anwälten Lady Byrons, Wilmot Horton und Colonel Doyle. Man stritt heftig darüber, was mit den unveröffentlichten Memoiren geschehen solle: Sollte man sie für die Nachwelt bewahren? Sollte man sie unauffällig beseitigen oder doch noch der Öffentlichkeit präsentieren?
Thomas Moore versuchte alles, um das Manuskript zu retten. Er bat Murray, der die Papiere gar nicht gelesen hatte, sich für ihren Erhalt einzusetzen. Doch Horton und Doyle, die die Interessen der Erben vertraten, beendeten die Diskussion abrupt, indem sie die Memoiren in Stücke rissen und in den Kamin beförderten. Warum, ist nicht ganz klar, denn auch die Anwälte hatten keine Ahnung von dem Inhalt des Werkes: Keiner der Anwesenden konnte beurteilen, ob der Text wirklich so skandalös war, wie man befürchtete. Berichtete Byron von homosexuellen Ausschweifungen aristokratischer Zöglinge in seinem alten Internat in Harrow? Von ungebührlichen Beziehungen zu seiner geliebten Schwester Augusta? Beschrieb er offenherzig das Scheitern seiner glücklosen Ehe? Die Inquisitoren wussten es nicht.
Mary Shelley war eine der wenigen, die die Memoiren gelesen hatten. Sie hatte, während ihres Aufenthalts in Venedig im Herbst 1818, das Manuskript für Byron ins Reine geschrieben und 1827 eine Zusammenfassung für Thomas Moore erstellt, der an seiner Biographie arbeitete. »Es stand nicht viel darin«, lautete ihr knapper Kommentar. Mehr ist aus dieser Quelle nicht zu erfahren, da auch Mary Shelleys Text über die Memoiren verlorenging. Aber man kann davon ausgehen, dass Moore alle darin enthaltenen Informationen für sein Buch verwendet hat.
Ein kleiner, unscheinbarer Ersatz für die verlorenen Aufzeichnungen ist Byrons Journal von 1821, das unter dem Titel »Detached Thoughts« (»Entlegene Gedanken«) Erinnerungen und Anekdoten über Freunde und Zeitgenossen präsentiert. Der Plauderton dieser Texte entspricht möglicherweise dem der Memoiren, die in dem Journal erwähnt werden. Dort heißt es:
»Könnte ich ausführlich die wahren Gründe erklären, die dazu beitrugen, diese vielleicht natürliche Veranlagung – diese Melancholie zu steigern, die man mir sprichwörtlich zuschreibt – dann würde sich niemand wundern – – aber dies ist unmöglich, ohne viel Leid zu verursachen. – – Ich weiß nicht wie das Leben anderer Menschen verlief – aber ich kann mir nichts Merkwürdigeres vorstellen als einige frühe Abschnitte meines eigenen – – Ich habe meine Memoiren geschrieben – aber all die wirklich wichtigen & gewichtigen Teile weggelassen – aus Respekt vor den Toten – und den Lebenden – und jenen, die wohl beides zugleich sind. –
Manchmal denke ich, ich hätte das Ganze neu schreiben sollen – als eine Lektion – aber es hätte sich als Lektion herausstellen können, die man lernen muss – anstatt sie zu meiden – denn Leidenschaft ist ein Malstrom, den man vom Strudel aus nicht betrachten kann, ohne seine Anziehungskraft zu spüren. –
Ich darf diese Überlegungen nicht fortsetzen – sonst gebe ich noch das ein oder andere Geheimnis preis – zum Entsetzen der Nachwelt.«
Diese Notizen lassen vermuten, dass Byrons Memoiren keine schockierenden Enthüllungen boten, die die Klatschmäuler jener Zeit über Jahre beschäftigt hätten. Die dunklen Anspielungen auf unaussprechliche Jugendsünden, die die erhaltenen Aufzeichnungen und Briefe wie ein roter Faden
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