Die Bibliothek der verlorenen Bücher
sämtliche Manuskripte aus seinem Nachlass zu verbrennen. Wäre Brod dieser Anweisung gefolgt, dann wären uns von Kafka nur eine Handvoll veröffentlichter Erzählungen geblieben, während »Der Prozeß« und »Das Schloß« einen Platz in der Bibliothek der verlorenen Bücher gefunden hätten. Kafka sah offenbar gern zu, wie die Flammen des Kamins ihn von der papierenen Last befreiten. An seine Schwester Ottla schrieb er bereits 1917, als sich erste Symptome seiner Lungenkrankheit zeigten, wie er seine Jugendwerke und verschiedene Manuskripte in seiner Wohnung im Schönborn-Palais auf der Prager Kleinseite verbrannt habe: »Gestern habe ich im Palais verschlafen; als ich ins Haus hinaufkam, war das Feuer schon ausgelöscht und sehr kalt. Aha, dachte ich, der erste Abend ohne sie und schon verloren. Aber dann nahm ich alle Zeitungen und auch Manuskripte und es kam nach einiger Zeit noch ein sehr schönes Feuer zustande.«
Franz Kafka, der sich um sein Ansehen und seinen literarischen Ruhm vorbildlich wenig Gedanken machte, verbrannte seine Manuskripte wegen eines geradezu intimen Verhältnisses zu seinen Texten, die er überaus selbstkritisch, gleichzeitig aber auch sehr selbstironisch beurteilte. Max Brod schrieb 1938 in seinem Nachwort zur französischen Gesamtausgabe der Werke Kafkas: »Franz Kafka (geboren 1883 in Prag, gestorben 1924 im Sanatorium Kierling bei Wien) wollte nie etwas publizieren. Seine Hauptwerke erschienen erst nach seinem Tode. Sehr vieles hat er leider verbrannt, und so ist es für immer verloren. Von dem, was zu Kafkas Lebzeiten erschienen ist, wurde vieles nur gedruckt, weil ich meinen Freund dazu drängte. So beispielsweise sein erstes Buch ›Betrachtung‹ das so kurz war, dass der Verleger eine abnorm große Buchstabentype verwenden musste, um auch nur die wenigen Seiten zu füllen. Dass es sich um etwas nicht bloß der Buchstabengröße nach Außerordentliches, sondern um eine wahrhaft singuläre Erscheinung handelte, wurde von einigen rasch erkannt.«
Um den Inhalt dessen, was Kafka tatsächlich verbrannte, gibt es immer noch einige Verwirrung. So erscheint in der Familienchronik Else Bergmanns ein Hinweis auf eine Meistersinger-Parodie Kafkas, die satirische Anspielungen auf die Anhänger des Philosophen Franz Brentano enthielt. Max Brod weist in seinen Erinnerungen jedoch darauf hin, dass das »Machwerk« von ihm stammte und dass er es gleich nach der missglückten Aufführung zerrissen habe.
Ein anderes Werk, ein Drama mit dem Titel »Der Gruftwächter«, das Kafkas Freund Oskar Baum für verloren hielt, ist indessen erhalten geblieben. Kafka hatte Baum erzählt, dass er daran schrieb, ohne etwas über den Inhalt zu verraten. Als es vollendet war, weigerte er sich, daraus vorzulesen. »Das einzig Nichtdilettantische an dem Stück ist, dass ich es nicht vorlese«, meinte er, und Baum zählte es zu den Manuskripten, »die er, vor seiner Abreise von Berlin an seine Sterbestätte, langsam eines nach dem anderen ins Feuer warf«.
Der Berliner Verleger Kurt Wolff erinnerte sich an eine Bemerkung Kafkas, die ihm einzigartig, aber auch typisch für diesen wundersamen Menschen und Autor erschien: »Ich werde Ihnen immer viel dankbarer sein für die Rücksendung meiner Manuskripte als für deren Veröffentlichung.« In diesen Worten erklingt eine Poesie des Schweigens, ohne die unsere Bibliothek nicht existierte.
Im Schließfach des Blaise Cendrars
W er war Blaise Cendrars? Um dies zu ergründen, bedarf es mehr als einer Aufzählung biographischer Daten. Es genügt auch nicht, sein umfangreiches Werk zu lesen, das Gedichte, Reportagen, Romane, Erzählungen und Schilderungen seiner abenteuerlichen Erlebnisse umfasst. Seine autobiographischen Schriften sind Labyrinthe voller Widersprüche und maßloser Übertreibungen. Das macht sie nicht unwahr, denn diese Zerrissenheit ist ein unverzichtbarer Teil von Blaise Cendrars’ Existenz. »Cendrars genügt es, dazusein und seine unerschöpfliche Lebenskraft auszustrahlen«, schrieb Henry Miller über seinen Freund. »Er ist die Inkarnation des entgegengesetzten Prinzips, das die Welt regiert, wie die Lüge, die die Wahrheit enthüllt.«
Miller kannte Cendrars nur als den Mann, der die Rolle des Blaise Cendrars spielte und sich in dieser Figur, die sich über die Grenzen zwischen Literatur und Leben mühelos hinwegsetzte, immer wieder neu erfand. Alle kannten ihn: Apollinaire, Chagall, Modigliani, Picasso. Er
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