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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

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Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
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seinem Schreibtisch saß und die Geschichte aufschreiben wollte, sei alles verschwunden gewesen. »Tragen Sie immer Bleistift und Papier bei sich«, sagte Hardy und fügte hinzu: »Selbstverständlich könnte ich die Geschichte, selbst wenn sie mir jetzt wieder einfiele, nicht mehr schreiben. Die Zeit des Romanschreibens ist für mich vorbei. Aber ich denke oft darüber nach, was es wohl für eine Idee war.«
       Robert Ranke-Graves hatte ebenfalls die Idee zu einem Buch, das letztlich nicht geschrieben wurde. Kein Roman allerdings, sondern eine große Abhandlung über moderne Dichtung, die er mit seinem Freund T. S. Eliot zu verfassen gedachte. Dieses Projekt scheiterte nicht an einem Mangel an Bleistift und Papier, sondern an Zeit. T. S. Eliot war bekannt dafür, tausenderlei Projekte zu planen, die er dann nicht realisierte. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass er seine frühen Gedichte im Morgengrauen schrieb, bevor er seinen Arbeitsplatz in einer Londoner Bank aufsuchte. Es gab für ihn eigentlich immer viel mehr Gründe, nicht zu schreiben, als zu schreiben: seine Arbeit, seine Tätigkeit als Herausgeber und Lektor, seine unablässig kranke Frau, die zudem an einer »demoralisierenden Geistesstörung« litt, seine eigenen Depressionen und Schreibblockaden, sein Kater George. Andererseits würde wohl niemand sein kryp tisches Gedicht »The Waste Land« lesen, wenn es fünfhundert Seiten umfasste.
       Dostojewski hatte solche Probleme nicht. Seine Romane sind bei weitem zahlreich und umfangreich genug. Man könnte meinen, dass bei diesem Autor ein oder zwei fehlende Bücher keinen großen Unterschied machten. Und doch gibt es kaum ein anderes Werk, dessen Nichtexistenz die Literaturliebhaber heftiger beweint hätten als Fjodor Dostojewskis fünfbändigen Romanzyklus »Das Leben eines großen Sünders«. Dieses monströse Projekt eines weitschweifigen Entwicklungs- und Bildungsromans, eines »Wilhelm Meisters« der russischen Literatur, kam aus dem keimfähigen Stadium des Konzepts jedoch nicht heraus. Grund dafür war wohl lediglich die allzu knapp bemessene Lebenszeit des Autors. Ein Fragment der ursprünglichen Idee blieb in dem sozialkritischen Entwicklungsroman »Der Jüngling« erhalten. Arkadi Makarowitsch Dolgoruki, Hauptfigur und Erzähler dieses Romans, ist ein illegitimer Sohn des leichtlebigen Landadligen Wersilow, um dessen Sünden der große Romanzyklus kreisen sollte. Diese spielen aber nur noch am Rande eine Rolle, und der Gutsherr Wersilow wird vom düsteren Helden zur Nebenfigur degradiert.
       In seinen unter dem Titel »Tagebuch eines Schriftstellers« veröffentlichten Notizen und Zeitschriftenartikeln findet sich noch ein weiterer Plan für einen Roman: Dostojewski schreibt hier über eine Weihnachtsfeier und einen Kinderball im Künstlerclub. Er habe sich immer gern Kinder angesehen, meinte er, nun aber beobachtete er sie mit besonderer Aufmerksamkeit. Er wollte einen Roman über die russischen Kinder seiner Zeit schreiben und, »nun ja, natürlich auch von deren jetzigen Vätern, in ihrem jetzigen gegenseitigen Verhalten zueinander. Die Fabel ist fertig und als erstes entstanden, wie es sich ja auch gehört bei einem Romanschriftsteller. Ich will die Eltern und die Kinder nach Möglichkeit aus allen Gesellschaftsschichten nehmen und die Kinder von ihrer frühesten Kindheit an verfolgen.«
       Dostojewski hatte schon in einem frühen Romanfragment bewiesen, wie gut er sich in verletzliche Kinderseelen einfühlen konnte. Die ergreifende Geschichte »Netotschka Neswanowa« beschreibt den schmerzvollen Weg eines Waisenmädchens, das von einer Pflegefamilie zur nächsten geschickt wird und immer wieder ein neues Leben unter Fremden beginnen muss. Netotschkas Schicksal gibt eine Vorstellung davon, um welche Lesewelten wir gebracht wurden, weil Dostojewskis »Kinderroman« ungeschrieben blieb.
       Auch in den nachgelassenen Aufzeichnungen Charles Baudelaires stößt man hin und wieder auf Ideen und Konzepte, die wegen der zerrütteten Gesundheit des Dichters und Dandys nie verwirklicht wurden. Körperliche Schmerzen, Lähmungen und zunehmende Bewusstseinsstörungen – Symptome der Syphilis – machten ihm das Schreiben zur Qual und schließlich unmöglich. In Baudelaires »Intimen Tagebüchern« ist von einem Plan zu einer lyrischen oder märchenhaften Hanswurstiade die Rede, einer Pantomime, die er in die Form eines vollkommenen Romans übertragen wollte: »Das Ganze in eine

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