Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Lemuel Shaw, ihn auf die Insel Nantucket zu begleiten. Shaw war Richter und sollte dort eine Verhandlung führen. Er dachte daran, den Aufenthalt mit einigen privaten Exkursionen zu verbinden, um den Autor des »MobyDick« mit Persönlichkeiten und Schauplätzen der Region bekannt zu machen, die eine enge Beziehung zum Walfang hatten.
Die Nantucketer blickten auf eine große Tradition als Seefahrer und Waljäger zurück. Schon die ersten Siedler hatten feststellen müssen, dass der Boden für Ackerbau zu karg war, und sich den unermesslich scheinenden Schätzen des Meeres zugewandt. Melville, der über die Geschichte der legendären Walfängergemeinde bestens Bescheid wusste, lernte auf der Insel den Anwalt John Clifford aus New Bedford kennen, der 1853 zum Gouverneur von Massachusetts gewählt wurde.
Clifford hatte ein reges Interesse an den wunderlichen Berichten, die die Seeleute aus aller Welt nach Hause brachten – Geschichten von Schiffbruch, Sturm, Meuterei, Mord und Kannibalismus. Vieles davon war längst Teil der amerikanischen Folklore. Melville hatte in seinen Romanen schon oft auf das Schicksal be rühmter Nantucketer Walfänger zurückgegriffen: Der Untergang der »Essex« am 20. November 1820 nach einem Zusammenstoß mit einem wütenden Pottwal und die monatelange Tortur der Überlebenden in ihren Rettungsbooten waren wie die blutige Meuterei des Samuel Comstock auf der »Globe« wichtige Inspirationsquellen für sein Epos über den weißen Wal. Doch es gab immer noch Neues und Erstaunliches zu entdecken – Stoff für tausend neue Bücher.
Als Melville von den Leiden der Walfängerfrauen sprach, die in der Regel vier bis fünf Jahre auf die Heimkehr ihrer Ehemänner warten mussten, nur um sie nach ein paar Wochen erneut zu verabschieden, erzählte Clifford die merkwürdige Geschichte einer Seemannsbraut: Agatha Hatch aus New Bedford hatte den schiffbrüchigen Matrosen James Robertson zuerst gesund gepflegt und dann geheiratet. Nach zwei glücklichen Jahren verschwand Robertson spurlos. Er hatte vorgegeben, auf Arbeitssuche gehen zu wollen, und seine schwangere Frau mittellos zurückgelassen.
17 Jahre wartete Agatha auf die Rückkehr ihres Mannes. Eines Tages erschien James Robertson unvermutet, umarmte Frau und Tochter, gab ihnen Geld und verschwand erneut. Zur Hochzeit seiner Tochter kehrte er abermals zurück. Kurze Zeit später erfuhr Agatha die Wahrheit über das Doppelleben ihres Mannes. Dieser war nach Alexandria im Bundesstaat Virginia gezogen, wo er eine andere Frau geheiratet hatte. Nach deren Tod hatte er in Missouri ein drittes Mal geheiratet. All dies vertraute er seiner ersten Frau an. Agatha weigerte sich, rechtliche Schritte gegen ihn einzuleiten oder Ansprüche geltend zu machen, um dem Ruf ihres Mannes und seiner neuen Familie keinen Schaden zuzufügen.
Clifford schickte später eine schriftliche Fassung der Geschichte an Melville, der sie zunächst an seinen Freund und Dichterkollegen Nathaniel Hawthorne weiterleitete. Er drängte ihn, den Stoff für eine Erzählung zu verwenden. In langen Briefen offenbarte er Hawthorne, wie eine Bearbeitung aussehen müsse, welche Szenerien und Charaktere geeignet seien, die Geschichte Agathas dramatisch und effektvoll darzustellen. Hawthorne wollte dem Vorschlag Melvilles nicht folgen, so dass dieser sich entschloss, die Erzählung selbst zu schreiben. »Du hast mich gezwungen, sie zu schreiben«, erklärte er Hawthorne. Er wolle die Erlebnisse und Beobachtungen seiner Sommerreise nach Nantucket und Martha’s Vineyard nutzen – einschließlich der Geschichte des »alten Seemanns aus Nantucket«, womit offensichtlich Kapitän Pollard gemeint war, dessen Schiff 1820 von einem mächtigen Pottwalbullen gerammt und versenkt worden war. Die Erzählung, die aus diesen Plänen entstand, wurde unter dem Titel »The Isle of the Cross« (»Die Insel des Kreuzes«) bis zum 22. Mai 1853 fertiggestellt, dem Geburtsdatum von Herman Melvilles Tochter Elizabeth. Der Titel ist aus einem Brief von Melvilles Schwester Augusta überliefert, die seine Manuskripte ins Reine schrieb. Der Text selbst ist verschollen und wurde nie veröffentlicht.
Ein weiterer verlorener Roman aus dieser Zeit ist »The Tortoise Hunters« (»Die Schildkrötenjäger«), den Melville dem New Yorker Verlag Harper & Brothers im November 1853 anbot. Für das als Abenteuer- und Seeroman angepriesene Manuskript von ungefähr dreihundert Seiten wurde ein
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